Digitalisierung bei der Evangelischen Heimstiftung
05.07.2019 -
Eine profunde Auseinandersetzung mit der Digitalisierung in der Pflege steht vielfach noch aus. Einen guten Weg vorausgegangen ist die Evangelische Heimstiftung, die vor einigen Jahren eine umfassende Digitalisierungsstrategie beschlossen hat. Gleichzeitig entwickelte das Unternehmen klare Leitlinien, die seine Haltung zur Digitalisierung kennzeichnet. So will man nicht die Pflege an sich digitalisieren – wohl aber darf Technik die menschliche Interaktion unterstützen. Man versteht sich nicht so sehr als Träger stationärer oder ambulanter Altenhilfe, sondern als ein diakonisches Unternehmen, das sich um die Bedürfnisse alter Menschen mit Hilfebedarf kümmert. Matthias Erler von medAmbiente sprach mit Martin Schäfer Prokurist für Neue Wohnformen und Dienste.
Herr Schäfer, wie sieht die Digitalisierungsstrategie der Evangelischen Heimstiftung grob umrissen aus?
Martin Schäfer: Unsere Digitalisierungsstrategie haben wir schon vor einigen Jahren gestartet – und sie spielt eine immer größere Rolle in unserem Geschäftsmodell. Davon fand sich schon viel im 2014 gestarteten Projekt Aladien. Letztes Jahr haben wir uns dazu entschlossen, den Themen Innovation, Wohnformen und Diensten einen eigenen Geschäftsbereich zu geben, für den ich seit Januar 2018 verantwortlich bin. Diese Themen werden zunehmend wichtiger, wenn nicht wegweisend in der gesamten Altenhilfe.
Was gehört alles zum Thema Digitalisierung bei Ihnen?
Martin Schäfer: Es handelt sich aus meiner Sicht um einen Oberbegriff, der vieles zusammenfasst und vermischt. Er ist etwas unscharf, niemand weiß so recht was sie mit sich bringen wird, so dass er entsprechende Ängste und Unsicherheiten in der Sozialbranche auslöst. Für uns ist Digitalisierung überall dort relevant, wo sie uns dabei unterstützen kann, passgenaue, bedarfsgerechte Leistungen anzubieten. Dort, wo sie uns also konzeptionell unterstützen kann, sind wir für alles offen. Gleichzeitig haben wir uns aber von Anfang an eine ethische Leitlinie gegeben. Das ist uns wichtig, denn wir glauben, dass man nicht einfach alles tun sollte, was machbar ist.
Was gehört für Sie zum Machbaren und Vertretbaren?
Martin Schäfer: Es wird sehr viel geforscht – dazu gehören Robotik und Telemedizin. Bei der Sensorik gibt es sehr viel Entwicklung, alles wird bezahlbarer und kleiner. Die Ausweitung des Internets der Dinge ist meiner Meinung nach in der Zukunft ein großes Thema auch in der Altenhilfe. GPS-Tracking gehört auch dazu. Im Aufzählen dieser Möglichkeiten wird ihre Vielfalt deutlich – wir müssen das also für uns strukturieren. Im Bereich Innovation beteiligen wir uns an Forschungsprojekten, probieren Dinge aus, auch in der Telemedizin. Ein Beispiel ist das Projekt „QuartrBack“. Im Referat „Assistenzsysteme und Digitalisierung“ bündeln wir die Themen die wir so wichtig finden, dass wir sie auf den Boden, also in den Betrieb bringen. Es gibt also immer erst sehr viele Projekte – und nur wenige davon bringen wir tatsächlich auf die Straße. Unser System Aladien ist bereits etabliert und wird seit 2014 konsequent in allen Betreuten Wohnungen verbaut.
Lassen Sie uns die genannten Projekte einmal näher ansehen – Sie erwähnten zunächst das Projekt „QuartrBack“?
Martin Schäfer: Das ist ein engmaschiges Hilfesystem aus Ortungstechnologie und Mobiltelefonie verbunden mit einem Helfernetzwerk zur Unterstützung von Menschen mit Demenz. Es handelt sich um eine Plattform für Ehrenamtliche und Profis. Das Rollout läuft gerade.
Und das Projekt Aladien?
Martin Schäfer: Wie QuartrBack gehört auch Aladien zu unserer externen Digitalisierungsschiene. Zur Erklärung: „Interne Digitalisierung“ ist unser EHS-Portal, -Internet und -Cloud – zum Beispiel mit dem Digitalen Dokumenten-Management, E-Learning, dem W-LAN in allen Einrichtungen oder dem Bewerbermanagement. Aladien steht für „Alltagsunterstützende Assistenzsysteme mit Dienstleistungen“. Es besteht aus vielen verschiedenen Modulen aus Sicherheit, Kommunikation, Gesundheit und Komfort, auf die der Nutzer per Tablet Zugriff hat. Gesundheit meint hauptsächlich den Bereich der Telemedizin. Sicherheit enthält unter anderem mit dem Modul Sturzerkennung die meisten Module.
Was gehört noch zu diesen Sicherheits-Modulen?
Martin Schäfer: Das ist zum Beispiel die Herd-Sicherheitsabschaltung, Video-Tür-Kommunikation mit der man immer sehen kann, wer vor der Haustür steht und klingelt, Orientierungslicht das beim Aufstehen aus dem Bett aktiviert wird, oder der Hausnotruf. Es gibt Bewegungsmelder in den Wohnungen, die das normale Bewegungsmuster des jeweiligen Bewohners lernen und bei drastischen Abweichungen davon über das Hausnotrufsystem möglichst schnell Hilfe organisiert. Aber auch Kommunikation ist wichtig: Es gibt ein digitales Schwarzes Brett, man kann Bilder teilen, skypen und emailen. Zu Komfort gehören etwa die Module Licht- und Rollladensteuerung sowie das Elektronische Schließsystem von Dom Sicherheitstechnik mit Transpondern, es gibt ein automatisches Hausflurlicht. Jeder bekommt für diese Funktionen ein Tablet mit seniorenfreundlich gestalteter Oberfläche und Apps ausgehändigt. Die Daten werden über einen Server bei Escos in Berlin ausgewertet – vor allem vor dem Hintergrund, dass möglichst schnell Hilfe da ist, wenn etwas passiert.
Gibt es viele Falschalarme?
Martin Schäfer: Das System funktioniert bereits sehr gut, aber man kann immer noch dazulernen. Wichtig ist nach unserer Erfahrung, anzufangen und sich nach und nach zu verbessern. Falschalarme kommen zwar vor, sind aber übrigens nichts Schlimmes, eher kleine Ärgernisse, die sich leicht ausräumen lassen: Es erfolgt dann ein Anruf, bei dem schnell geklärt werden kann, dass gar nichts passiert ist.
Wie kommt das System bei den Bewohnern an?
Martin Schäfer: Sehr gut. Es ist auch toll zu beobachten, wenn eine betagte Dame die Möglichkeit entdeckt, mit ihren Kindern und Enkeln per Whatsapp und Skype zu kommunizieren. Gut kommen auch zum Beispiel die großen Monitore an, die wie in den Eingangsbereichen unserer Betreutes-Wohnen-Anlagen installiert haben, die in der Regel an unsere stationären Einrichtungen angebunden sind. Hier werden Veranstaltungen und Infos beworben, die auch auf den Tablets abrufbar sind.
Es gibt anscheinend eine große Offenheit seitens der Senioren für die Technologie?
Martin Schäfer: Wir machen Angebote, die man annehmen kann, die aber natürlich nicht jeder Bewohner in der gleichen Weise annimmt. Es gehört zur Wohnungsausstattung – und nicht wenige nutzen die Technik erst nach einer Weile. Ich habe das zum Beispiel erlebt bei einer der ersten Übergaben des Tablets an einen Eigentümer im Betreuten Wohnen. Er hatte seine hinsichtlich der Technik äußerst skeptische Nachbarin zu dieser Übergabe als Besucherin herübergebeten. Die beiden beschäftigten sich dann mit zunehmender Begeisterung mit den einzelnen Features. Es entstand eine wertschätzende Atmosphäre des Gesprächs. Ganz generell gibt es deshalb auch richtige Aladien-Stammtische alle vier Wochen, bei denen man sich bei Wein und Bier über die Technik, über gewünschte Programme u.s.w. austauscht. Da passiert also sehr viel. Anstelle der Technik steht dann schnell die soziale Interaktion im Vordergrund. Und wenn mal etwas nicht klappt, kann man sich wunderbar zusammen aufregen. Diese Anwendungen der Digitalisierung werden bald auch bei Senioren eine Selbstverständlichkeit sein – so wie beim inzwischen selbstverständlich geforderten W-LAN im Hotel.
Sind diese Systeme nur für Betreutes Wohnen mit Tagespflege relevant? Wie sieht es mit stationären Einrichtungen aus?
Martin Schäfer: Wir setzen digitale Technik in der stationären Pflege genauso ein. Die Abgrenzung der Bereiche dient nur der internen Klarheit – es handelt sich ja um eine alles übergreifende Thematik. Im stationären Bereich wollen wir zum Beispiel mit den mit Sensorik ausgestatteten Pflegebetten von Wissner-Bosserhoff arbeiten. Generell ist hier die Sensorik sehr wichtig – dazu gehört etwa die Anwesenheitsmeldung oder die Weglauf-Meldung per GPS-Ortung. Nach meiner Vorstellung wird im stationären Bereich sehr viel Sensorik zum Einsatz kommen, die vor allem auch über den Gesundheitszustand des Menschen informiert. Müssen Einlagen gewechselt werden oder sind sie noch in Ordnung? Bewegt sich der Bewohner, sitzt er? Wichtig ist alles, was dabei hilft, die Pflege zu entlasten – vor allem auch in der Nacht. Richtig eingesetzte Sensorik hilft aber auch dem Bewohner, zum Beispiel dabei, durchzuschlafen. Es muss nicht stündlich jemand ins Zimmer kommen um nach dem Rechten zu schauen. Die Mitarbeiter wissen ja, wie es ihm geht. Viel solcher Routinearbeit kann also entfallen, so dass die Mitarbeiter mehr Zeit haben, sich um den Menschen selbst zu kümmern – anstatt sich nur über Temperatur und Blutdruck zu unterhalten. Das Bett ist das zentrale Möbel und steht beim Thema Sensorik ganz im Vordergrund.
Lassen Sie uns noch einen Blick auf den internen Digitalisierungspart lenken …
Martin Schäfer: Damit flankieren wir diesen Bereich der Sensorik sozusagen auf der internen Seite. Dazu gehört für uns beispielsweise das Warenwirtschafssystem. Für uns war es ein sehr wichtiger Schritt, mit dem wir 2013 angefangen haben, nämlich die Digitalisierung aller kundenfernen Prozesse. Die digitale Kundenakte, der Kreditorenworkflow, das Archivsystem und die digitale Personalakte gehören hierher. Das war ein enormes Projekt, weil es 90 Einrichtungen umfasst. Derzeit in Arbeit und in Planung sind noch ein digitales Bewerbermanagement und ein CRM-System. Dieses Customer-Relationship-Management-System erleichtert und optimiert unsere Kundenkontakte für unsere Mitarbeiter, aber auch für den Kunden, der nicht mehrmals dieselben Auskünfte mitteilen muss, wenn er es mit mehreren Kontakten zu tun hat. Diese Form des digitalisierten Kundenkontakts ist aus meiner Sicht die Zukunft: So können wir aus einer Hand beraten. Unser EHS-Portal soll der Zugang zum Intranet werden und unsere E-Learning-Programme sollen Lernen von jedem Platz aus möglich machen. Wichtig ist auch das für alle frei zugängliche W-Lan. Technik ist für uns bei all dem immer nur das Instrument – das Konzept und der Nutzen für den Menschen stehen für uns im Vordergrund bei allen Maßnahmen der Digitalisierung.
Sie haben eben schon erwähnt, dass Sie ethische Leitlinien entwickelt haben, an denen sich auch die Digitalisierung bewähren muss?
Martin Schäfer: Ein Leitbild und unsere Handlungsgrundsätze haben wir schon lange. Aber im Zusammenhang mit der Digitalisierung haben wir in der Tat eigene Leitlinien entwickelt, die wir einhalten wollen. Jede neue Idee muss sich daran messen. Hier geht es zum Beispiel um den Umgang mit der Privatsphäre. Die Grundaussage ist die, dass die Technik immer im Dienst des Menschen stehen muss. Sie dient der Teilhabe und Lebensqualität und sie ist möglichst in soziale Interaktion eingebunden. Technik kann menschliche Zuwendung nicht ersetzen, darf sie aber ergänzen. Wir verpflichten uns zum sorgfältigen Umgang mit Daten, gerade auch denen schutzbedürftiger, etwa nicht orientierter oder auch im Wachkoma liegender Menschen.
...beim Datenschutz geht es ja auch um die Mitarbeiter...?
Martin Schäfer: Es geht einerseits um den Umgang mit Menschen, die allzu leicht als digitale Verlierer dastehen können – also um barrierefreie, selbsterklärende und risikofreie Systeme. Und auch was die Mitarbeiter betrifft, muss geklärt werden, wie mit denen umgegangen wird, die zum Beispiel keinen Computer zuhause haben – das wurde beispielsweise bei unserer Mitarbeiterbefragung im letzten Jahr deutlich. Wir haben sie erstmals online durchgeführt. Wer keinen Rechner hat, muss entweder in den Einrichtungen Zugang zu einem erhalten – oder er bekommt doch noch gedruckte Bögen.
Sie haben auch eine Haltung zum Thema KI und Algorithmen formuliert?
Martin Schäfer: Wir wollen, dass Künstliche Intelligenz werteorientiert genutzt wird. Denn KI ist ja alles andere als wertneutral. Sie basiert auf Algorithmen, die jemand programmiert hat – und dessen Kriterien fließen immer mit ein. Hier müssen wir immer darauf achten, dass wir nicht ethische Dilemmata einfach an so ein System delegieren. Zu unseren Leitlinien bezüglich der Digitalisierung zählt außerdem, dass wir die Kunden in den Mittelpunkt stellen – sie sind es, die damit immer klar kommen müssen. Und die Mitarbeiter sollen dafür qualifiziert werden – und die Zeit dafür eingeräumt bekommen. Schließlich wollen wir immer auch prüfen, ob eine Maßnahme im Rahmen der Digitalisierung der Nachhaltigkeit dient und Ressourcen schont. Wir wollen ganz generell immer wieder unsere Haltungen reflektieren und sensibel mit digitalen Instrumenten umgehen.
Sie kooperieren auch mit einer Reihe von Pflege-Start-ups. Was steckt dahinter?
Martin Schäfer: Dem lag die Frage zugrunde, wie wir als recht großes Unternehmensschiff mit 8.400 Mitarbeitern und 11.400 Kunden auf effektive und unbürokratische Weise zu etwas Neuem und Innovativen kommen können. Deshalb haben wir uns mit dem Social Impact Lab in Stuttgart in Verbindung gesetzt. Dort werden Start-ups beraten und unterstützt. Anlässlich unserer jährlichen Führungskräftetagungen haben wir uns Zeit für einen Pitch genommen, zu dem wir fünf Start-ups eingeladen haben. Es gab Kurzpräsentationen und Gespräche – und wir nehmen uns jetzt die Zeit, die dort entstandenen Ideen zwischen den Start-ups und den Einrichtungen sich entwickeln zu lassen.
Was machen diese Start-ups ungefähr?
Martin Schäfer: Die Lindera-App arbeitet mit einem Algorithmus zur Feststellung von Gangunsicherheiten durch Auswertung von Videos die die Handykamera aufnimmt. Bei Hygnova geht es um die Registrierung von Handdesinfektion zur Vorbeugung von Keimverschleppungen. Myo bietet ein geschlossenes System zum Tausch von Bildern mit den Angehörigen von Bewohnern und Patienten. Supernurse ist ein spielerisch angelegtes Lernprogramm für Mitarbeiter. Und Bringliesel ist ein Angebot mit dem Angehörige bestimmte Pakete per Abo und Dauerauftrag an den Bewohner schicken können – zum Beispiel mit Artikeln des täglichen Bedarfs. Abgesehen von diesen Start-ups ist vor allem die eben schon erwähnte Firma Escos für uns sehr wichtig. Escos macht für uns die Middleware und die KNX-Programmierung für unsere digitalen Module. Wir sind an diesem Unternehmen seit 2016 beteiligt, damit wir die Entscheidungen was wir machen in der Hand haben. Wir wollten jede Abhängigkeit vermeiden. Das ist uns wichtig, denn wir wollen uns der Technik niemals um der Technik willen bedienen, sondern nach Maßgabe der Bedürfnisse von Pflegenden und Gepflegten.
Kontakt
Evang. Heimstiftung e.V.
Hackstr. 12
70190 Stuttgart
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+ 49 711/6367655