Katalysator Corona – für ein besseres Gesundheitswesen in Deutschland
Statement der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling
Gelernt haben wir von Corona: Gute Versorgung funktioniert nur ohne Sektorengrenzen.
Vergütungssysteme, die Grenzen ziehen, sind überholt. Für die Zukunft müssen vor allem Anreize und Fehlanreize, die aus Abrechnungssituationen entstehen, im Fokus der Zukunftsplanung stehen.
Das Jahr 2020 – innerhalb von wenigen Wochen sind viele Planungen und Gewohnheiten Schnee von gestern. Überall da, wo Menschen im direkten Austausch stehen kommt es zu massiven Veränderungen. Krankenhäuser reagieren in Rekordgeschwindigkeit: Patientenströme werden umgelenkt, elektive Eingriffe verschoben, Intensivkapazitäten hochgefahren. Mehr noch: Die Zahl der Intensivbetten und deren Belegungsgrad mit Covid19-Patienten werden zum zentralen Faktor dafür, inwiefern Menschen ihr normales Leben wieder leben können.
Die Entwicklungen haben uns einiges gezeigt. Plötzlich werden die Gesellschaft und ihre Unternehmen pragmatisch. Homeoffice, Videokonferenzen, digitale Kongresse – es funktioniert. Gesundheit wird zum zentralen Gut – alle ziehen an einem Strang, und: es klappt in einigen Punkten plötzlich richtig gut!
Intersektorale Zusammenarbeit
Was Corona in der Krankenhauslandschaft zu Tage fördert: Große wie kleine Krankenhäuser schaffen es in kürzester Zeit, an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär pragmatische Strategien zu entwickeln, um leistungsfähig und nachhaltig die adäquate Versorgung sicherzustellen. Die Einsatzbereitschaft und Flexibilität des Personals ist immens. Ein Beispiel aus Hessen: Als die Nachfrage in einer Drive-In-Teststation steigt, springen die Chirurgen und Anästhesisten der Klinik dem Ärzteteam des MVZ bei. Wochenendeinsätze im Drive-In und die neue Fiebersprechstunde werden individuell nach den Anmeldungszahlen innerhalb weniger Tage mit zusätzlichem Personal besetzt. Nachdem die Nachfrage im Drive-In sinkt und die Welle stationärer Aufnahmen beginnt, verstärken wiederum fachgebietsübergreifend die Chirurgen das Notfallteam, während die Anästhesie im Backup die Intensivstation unterstützt. Die Mitarbeiter der Verwaltung lassen sich in Hilfstätigkeiten wie Bettenaufbereitung und Reinigung schulen, um bei Bedarf zur Verfügung zu stehen. Intersektorale Gemeinschaftszonen haben die Fallsteuerung so verändert, dass frühzeitig ein abgestimmtes Verfahren zur Erstbehandlung und Risikominimierung zwischen den Sektoren möglich ist. Eine Umrüstung eines Lieferwagens als ärztlicher Fahrdienst zur Testung und Untersuchung in Pflegeheimen und bei Hausbesuchen, der Pizza-Pager als Aufrufmöglichkeit für vor Kliniken im Auto wartende Patienten – wenn über bestehende Grenzen hinaus gedacht und gehandelt wird, ergibt sich eine ungeheure Menge an Möglichkeiten.
Telemedizin: Chancen werden genutzt
Die Pandemie hat gezeigt, wie geeignet Videosprechstunden für Quarantänepatienten sind. Leistungen, die bisher nur bei einem physischen Treffen in der Arztpraxis möglich waren, werden teilweise ohne weitere Überprüfung durch den GBA unbürokratisch auch für eine telefonische Übertragung erlaubt. Telemedizin wird nun als funktionierende Methode akzeptiert, notwendige Arztbesuche bei gleichbleibender medizinischer Qualität zu reduzieren. Hier bleibt zu hoffen, dass Krankenkassen ihre Blockadehaltung aufgeben und weitere Maßnahmen in die Regelversorgung überführt werden.
Notwendigkeit von Behandlungen
Durch den fast vollständigen Stopp im ambulanten und stationären Sektor bei sogenannten „nicht notwendigen“ Behandlungen ist eine bizarre Situation entstanden. Krankenhäuser sind nur noch zu einem Bruchteil belegt, die Notaufnahmen berichten von einer deutlich gesunkenen Patientenzahl, in Praxen von niedergelassenen Kollegen (auch Allgemeinmediziner) wird über Kurzarbeit nachgedacht. Was ist der Grund dafür? Angst vor einer Infektion? Die falsche Annahme der Patienten, dass nur noch Corona-Fälle behandelt werden? Eine neue Bescheidenheit, nicht mit allen „Wehwehchen“ zum Arzt zu gehen? Noch wissen wir natürlich nicht, wie groß der Rebound-Effekt für nicht durchgeführte Behandlungen ist. Was sich jedoch gezeigt hat: die Auslegung der Frage, was notwendig und was planbar ist, birgt auf Seiten der Leistungserbringer durchaus Spielraum. Dem gegenüber steht jedoch ein zum Teil hoher Leidensdruck der Leistungsempfänger, geplante Eingriffe nicht zu erhalten.
Bedarfsorientierte Strukturen
Versorgungsengpässe darf es natürlich nicht geben. Es zeigt sich aber, dass die Gesamtzahl der stationären Behandlungsmöglichkeiten auch in Krisenzeiten ausreicht. Situativ braucht es jedoch mehr intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten. Müsste dafür die Krankhauslandschaft umstrukturiert werden? Zum Beispiel in einer Form von Zentralisierung und der Schaffung von Pufferkapazitäten für sich spontan verschlechternde Patienten, welche häufig nur eine kurze Phase der Stabilisierung und/oder nicht-invasive Beatmung benötigen? Evtl. wären weniger Krankenhäuser besser, die jedoch anders ausgestattet sind? Vielleicht sollten bundesweit Zentrumskliniken benannt werden, die eine koordinierende Funktion für die stationäre Gesundheitsversorgung in ihrer Region haben. Diese könnten Personal und Patienten für umliegende Kliniken (Allrounder und Fachkliniken), Rehabilitationseinrichtungen und Senioren- und Pflegeheime und Hospize bedarfsadaptiert einplanen. Die Wege für die Mitarbeiter könnten sich dadurch zwar verlängern, die Arbeitsdichte jedoch dadurch deutlich abnehmen, was spürbare Effekte auf die Versorgungsqualität und die Arbeitszufriedenheit hat. Und: Patienten könnten zunehmend auch aus der Ferne betreut werden – dank Telemedizin. Vielleicht sollte man auch endlich klären, was ein Krankenhaus tatsächlich ausmacht, im Vergleich zu MVZs oder Polikliniken.
Corona-Zeichen richtig deuten
Nutzen wir die Zeichen der Zeit, um Altes neu zu deuten. Corona hat gezeigt: Intersektorale Versorgung ist möglich und nötig. Zum Beispiel auch, wenn es um die adäquate poststationäre Versorgung von Pflegeheimpatienten, soziale Indikationsstellungen und Obdachlose geht. Gerade dieser Bereich kristallisierte sich als besonders systemrelevant heraus.
Stellt sich schließlich die Frage nach dem richtigen Anreizsystem. Weder scheint die Leerprämie das richtige Mittel der Wahl zu sein, noch die Tatsache, dass Krankenhaus nur funktioniert, wenn OP-Kapazitäten und Betten um jeden Preis ausgelastet sind. Behandlungsart und Behandlungsinhalt eines Patienten scheinen maßgeblich von der bestehenden Abrechnungsmöglichkeit beeinflusst zu sein. Diese Situation umzukehren muss die zentrale Lehre aus der Coronakrise sein.