Medizin & Technik

Orthopädie und Unfallchirurgie ­zwischen Tradition und Moderne

14.10.2016 -

Seit seiner Etablierung 2006 auf fast 12.000 Teilnehmer angewachsen, ist der Deutsche Kongress für Orthopädie & Unfallchirurgie inzwischen der bedeutendste Kongress des Faches in Deutschland und der größte in Europa.

Mit zunehmend internationaler Ausrichtung dient er vor allem dem intensiven persönlichen Erfahrungsaustausch, erläutert Prof. Dr. Heiko Reichel im Interview.

M&K: Der diesjährige DKOU hat 27 wissenschaftliche Schwerpunktthemen. Was sind Ihre persönlichen Highlights?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Obwohl unser gemeinsames Fach zunehmend durch Innovation und Hightech charakterisiert ist, erwarte ich nicht die Präsentation des Wunderinstruments oder der Nobelpreis-verdächtigen Methode. Das Spannende für mich ist die faszinierende Breite des Faches, die sich in diesem Kongress widerspiegelt. Highlights des DKOU sind zunächst immer die eingeladenen Sitzungen mit Tipps und Tricks sowie Expertenrunden, für die man Spezialisten, die deutschlandweit und auch international wirklich etwas zu sagen haben, an einen Tisch bringt. Das Gewinnbringendste eines solchen Kongresses ist der Erfahrungsaustausch, das Lernen von Kollegen aus ganz Deutschland und vielen Ländern Europas. Der DKOU hat sich seit einigen Jahren zunehmend international aufgestellt. Neben dem − deutlich kleineren − Kongress der European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) ist der DKOU mehr und mehr der europäische Kongress für O & U geworden. Wir haben das Programm so gestaltet, dass sich in der Summe ein gutes Bild der deutschsprachigen und internationalen O & U ergibt. Es wird an allen Tagen zwei komplette englischsprachige Sitzungsstränge geben. Wir haben mit der Schweiz und Israel zwei renommierte Gastländer gewonnen, die in vielfältiger Weise am Kongress teilhaben und ebenfalls internationale Sitzungen gestalten. Es gibt mehrere englischsprachige Sitzungen der AO Foundation, der Orthopaedic Research Society und weiterer nationaler und internationaler Fachgesellschaften. Eine Sitzung wird vom Hospital for Special Surgery aus New York gestaltet, die die aktuellen Highlights der amerikanischen Endoprothetik darstellen wird.

Was ist die Botschaft des Kongressmottos „Zurück in die Zukunft"?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Es beschreibt den dynamischen Prozess zwischen Tradition und Moderne in unserem schönen Fach. Wir können uns nur weiterentwickeln, wenn wir das, was wir einmal gelernt haben, bewahren und in die Zukunft mitnehmen. „Never forget where you come from", gilt wie für jeden von uns ebenso für unser Fach. Auch wenn heutzutage technische Innovationen, Hightech-Medizin etc. oft im Vordergrund stehen, fußt doch letztlich alles auf zum Teil Jahrhunderte alten Erfahrungen aus der Orthopädie/Unfallchirurgie. Beim täglichen Umgang mit diesem Wissen gilt es immer wieder zu entscheiden, wann kann ich etwas Bewährtes heute noch anwenden und wo brauche ich wirklich Hightech.

Ist das ein Plädoyer für die konservative Therapie?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Selbstverständlich ist es auch das. Gerade die konservativen Inhalte unseres Faches sind wichtig. Die konservative Frakturbehandlung, die Prävention und konservative Behandlung orthopädischer Erkrankungen, des Schmerzes, die Frühbehandlung der Hüftdysplasie, womit nachweislich operative Eingriffe vermieden werden können, sind nur einige Beispiele für das, was im deutschsprachigen Raum entwickelt wurde und sich zum Teil inzwischen weltweit durchgesetzt hat. Die vornehmsten Prinzipien unseres Handelns in O & U sollten immer lauten „konservativ vor operativ“ und „Gelenkerhalt vor Gelenkersatz“.

Die breite Anwendung von Innovationen in der Praxis ist meist eine teure Angelegenheit. Wo sehen Sie den Kompromiss zwischen Machbarkeit und Finanzierung, zwischen möglich und sinnvoll in der immer älter werdenden Gesellschaft?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Sie meinen, ob Innovationen das Kostenproblem im Gesundheitswesen möglicherweise verstärken? Ja, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Andererseits sind wir ein reiches Land. Deutschland kann und muss sich Gesundheit für seine Bevölkerung „leisten". Wir brauchen für unser gesellschaftliches Leben staatlich finanzierte Bereiche wie Bildung, Kultur, Polizei, Justiz. Und wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitswesen. Das ist eine originäre Aufgabe des Staates und der Politik. Dafür sind geeignete Finanzierungsmodelle und Strukturen erforderlich, man kann das Gesundheitswesen nicht ausschließlich dem Markt überlassen. Kliniken sind nun mal keine Schraubenfabriken und eine ärztliche Behandlung ist kein Reifenwechsel. Krankenhäuser kann man nicht wie Industriebetriebe führen. Sicher sind auch ökonomische Prinzipien zu berücksichtigen, aber der Arzt ist der Anwalt des Patienten und nicht in erster Linie verantwortlich für den Gewinn des Krankenhauses. Wir gehen mit Menschen, mit Patienten um, deren Wohlergehen wir verpflichtet sind. Auch die Behandler sind Menschen und müssen mit entsprechender Wertschätzung bedacht werden. Nach einer aktuellen Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Chirurgen (BDC) empfindet heute fast ein Drittel der leitenden Krankenhausärzte die Ökonomisierung und die hieraus resultierenden Konflikte mit der Verwaltung, die zudem häufig von Respektlosigkeit geprägt sind, als besonders belastend. Dies ist besorgniserregend und muss auch im Sinne der gemeinsamen Verantwortung für die Patientenversorgung unbedingt geändert werden.

Wie sehen Sie im Zusammenhang von Machbarkeit und Finanzierung das Thema „Altersgrenze und Therapieverzicht"?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Diese Diskussion halte ich für sehr gefährlich, hier stoßen wir an ethische Grenzen. Es gibt bei uns keine Altersbegrenzung. Ich habe bei 90- und 100-Jährigen schon Hüftendoprothesen implantiert, die dann in die Ambulanz gelaufen kamen und mir „um den Hals gefallen" sind. Natürlich muss es dann nicht immer das besonders abriebstabile Hightech-Implantat sein. Aber auch der Hochbetagte hat, wenn die Indikation eindeutig und er ansonsten gesund und altersentsprechend vital ist, ein Recht darauf, dass man ihm z. B. mit einem Kunstgelenk hilft, wenn er damit weiter mobil und selbstständig bleiben kann. Insbesondere dann, wenn damit Folgeprobleme vermieden werden können.

Wo sehen Sie Potenziale zur Erhöhung der Effizienz?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Zunächst einmal geht es um eine Verbesserung und Standardisierung der Abläufe im Krankenhaus, die teilweise effizienter gestaltet werden können. Ein wichtiger Punkt ist hierbei die notwendige Spezialisierung in unserem großen Fach. Wenn einer alles macht, so kann er dies nicht annähernd so gut und so schnell leisten, wie einer, der dies täglich spezialisiert macht. Der Patient wünscht sich heute den spezialisierten Behandler, den Hüft-, Knie- oder Schulterexperten. Zur Effizienz beitragen können beispielsweise auch Einkaufsgemeinschaften für Implantate u.ä., die ein preisgünstigeres Wirtschaften ermöglichen. Effizient kann auch sein, bewährte Standardimplantate für eine Standardversorgung zu definieren, was jedoch nicht ausschließen darf, dass Patienten, die dies wirklich brauchen, jederzeit auch spezielle Innovationen bekommen können. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass trotz aller berechtigten ökonomischen Vorgaben die Therapiefreiheit des Arztes unbedingt gewahrt bleiben muss. Weder ein Kosten- noch ein Krankenhausträger darf einer ärztlichen Leitung, dem verantwortlichen Arzt, fachlich „ins Handwerk pfuschen". Ein weiterer Faktor beim Thema Effizienz ist die vernünftige Auslastung eines Krankenhauses. Auf dem letzten DKOU sagte der Festredner Prof. Gunter Dueck, jede Art von „Serviceleistung" (und damit auch die Patientenversorgung) laufe nur dann gut, wenn die Auslastung bei 85 % liegt. Alles, was darunter liegt, ist ökonomisch fatal. Aber alles, was darüber hinausgeht, macht Stress und Probleme. Wenn Träger glauben, man könne durchgehend die 100 %ige Auslastung einer Klinik erreichen, dann ist das nicht realisierbar. Alle wissen, dass ein solches Vorgehen für die Qualität der Versorgung, für die Patientensicherheit, die Fehler- und Komplikationsvermeidung ungünstig wäre. Um einen Systemcrash zu vermeiden, müssen die Abläufe jederzeit noch kurzfristig adjustierbar sein. Um 100 % Leistung bringen zu können, muss man mit 85 % Auslastung planen.

Dennoch besteht ja allerorten Zeit- und Kostendruck. Wo sehen Sie Lösungsansätze, die Patientensicherheit trotzdem zu gewährleisten und Komplikationen zu vermeiden?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Man darf keinen zu großen Zeitdruck zulassen und medizinische Entscheidungen nicht vordergründig unter Kostenaspekten treffen. Ich bin sehr dankbar, dass das Thema Patientensicherheit und in diesem Zusammenhang auch die Hygieneproblematik sehr in der öffentlichen Diskussion sind. Das hilft, entsprechende Maßnahmen innerhalb der Krankenhäuser durchzusetzen. Wir haben sehr gute Mechanismen, mit denen Infektionen vermieden werden können − OP-Checklisten, Team-Time-Out, CIRS-Systeme, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen, risikoadjustiertes Keim-Screening. Alles Dinge, die sehr hilfreich sind. Und es gibt klare Prinzipien des Umganges mit Komplikationen: Offenheit, Transparenz, auswertende Diskussion ohne Schuldzuweisung. Fehler können immer und jedem passieren, auch Ärzte sind keine Roboter.

Wo liegen noch Defizite bei Patientensicherheit und Komplikationsmanagement?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Wir haben bereits optimierte Abläufe und sehr gute Standards. Die Methoden sind vorhanden, aber noch nicht überall umgesetzt. Um die Umsetzung voranzubringen und dabei Qualität und Sicherheit nachhaltig zu erhöhen, wurden Zertifizierungen und Register eingeführt, wie das Zertifizierungssystem EndoCert für Endoprothetikzentren und das Endoprothesenregister Deutschland EPRD. Neben den großen Prozessen sind es aber auch die kleinen Dinge, auf die man z. B. für die Infektionsprophylaxe achten sollte: wenig Personalverkehr und wenig Sprechen im OP – dafür aber häufiger Handschuhwechsel. Wichtig ist, den Patienten mit ins Boot zu holen, indem man ihn vor der OP gut aufklärt, dass er sich auf den Eingriff richtig vorbereiten kann, indem z. B. der Diabetes gut eingestellt wird, die Haut in Ordnung ist, indem präoperativ als Haarwaschmittel ein Antiseptikum verwendet und antiseptisch geduscht wird. Denn problematische Keime entstehen nicht primär im Krankenhaus, sondern die Patienten bringen sie mit. Und die Krankenhaus-Träger müssen verstehen, dass Hygieneprävention auch bedeutet, entsprechend qualifiziertes Personal, d.h. Hygienefachkräfte, Mikrobiologen etc. zur Verfügung zu stellen. Hygienestandards einzuhalten kann nicht unter dem Motto „das machen wir alles schon mit" laufen.

Einer der Schwerpunkte des Kongresses ist Prävention und Rehabilitation. Wie spiegelt sich das im Kongressprogramm wider?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Zu den Themen Prävention, Rehabilitation und Komplikationsmanagement gab es durchaus gute Abstract- Einreichungen, zahlenmäßig zwar nicht so viele wie bei anderen klinischen Fragestellungen, aber es wird interessante Sitzungen zur Prävention, Rehabilitation, zur Patientensicherheit und zum Komplikationsmanagement geben. Darüber hinaus haben wir ein gut besetztes Programm mit eingeladenen Referenten, das wir als Präsidenten gestaltet haben, und in dem sich alle diese Schwerpunkte wiederfinden.

Halten Sie das neue Präventionsgesetz der Bundesregierung für hilfreich?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Es sind sicherlich gute Ansätze darin, teilweise bleibt es aber in Ansätzen stecken. Wenn man glaubt, dass durch Finanzierung von „Fango und Bauchtanzkursen“ muskuloskelettale Erkrankungen und Verletzungen nachhaltig verhindert werden können, dann ist das ein Irrtum. In der Orthopädie haben wir beispielsweise ein exzellentes Präventionsprogramm zur ultraschallgestützten Früherkennung und Frühbehandlung der Hüftdysplasie im Säuglingsalter, das die Zahl der operativen Eingriffe und der stationären Behandlungen wegen Hüftdysplasie drastisch senken konnte. So etwas ist  auf allen Ebenen wichtig, wenn es nachweislich Vorteile bringt. Kinder und Jugendliche brauchen regelmäßige kinderorthopädische Untersuchungen, um Wachstumsstörungen und Deformitäten erkennen und gegebenenfalls korrigieren zu können. Positiv ist, dass mit dem Gesetz die Prävention als gesellschaftliche Aufgabe mehr in die öffentliche Diskussion gerückt wurde.

Stichwort Reha. Reichen die notwendigen Rahmenbedingungen in Deutschland aus?

Prof. Dr. Heiko Reichel: Wenn man sich mit einem Reha-Mediziner unterhält, wird er immer sagen, es ist alles viel zu wenig. Es gibt sicherlich regionale Unterschiede, aber im internationalen Vergleich ist Deutschland gut aufgestellt. In Amerika wird der Patient nach der Implantation seiner Hüfte oder seines Knies mehr oder weniger allein gelassen. Das darf nicht sein, und das ist in Deutschland auch nicht der Fall. Aber es ist zu bedenken, dass eine Operation oft nur die halbe Miete ist und bei vielen Erkrankungen und Verletzungen die postoperative Nachsorge und die Rehabilitation 50 % des Ergebnisses bestimmen. Angesichts der demografischen Entwicklung und der damit zunehmenden Patientenzahlen kann man nicht mit drei pensionierten Medizinalräten eine 200-Betten-Reha-Klinik betreiben. Es müssen adäquate personelle und therapeutische Möglichkeiten bereitgestellt werden; wobei es nicht immer eine stationäre Reha sein muss, auch eine gute ambulante Reha erfüllt ihren Zweck. Aber Vieles deutet darauf hin, dass wir bei steigendem Bedarf um den Erhalt der eigentlich guten Rehabilitationsqualität in Deutschland werden kämpfen müssen. Wenn wir also auf dem DKOU 2016 über Innovation, Hightech-Medizin und neue Implantate sprechen, wird es dabei auch immer um die Sicherstellung der Nachbehandlung gehen.

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