Moderne Schmerztherapie
5 bis 8 Mio. Patienten mit chronischen, behandlungsbedürftigen Schmerzen in Deutschland aus.
Rund drei bis fünf Prozent der Bevölkerung leiden z.B. an täglichen chronischen Kopfschmerzen; etwa 12 bis 14 Prozent aller Frauen haben hierzulande Migräne; jedes zweite Kind zwischen sieben und 14 Jahren klagt über Spannungskopfschmerzen. Fast 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung leiden unter täglichen Rückenschmerzen. Bez. der Kosten fallen allein durch Rückenschmerzen in Deutschland ca. 50 Mrd. Euro jährlich an Aufwendungen an, wobei der Löwenanteil (ca. 65%) auf eine kleine Gruppe von hoch chronifizierten Patienten entfällt.
Seit Anfang der 70er Jahre gibt es in Deutschland eine organisierte Schmerzbehandlung, eine der ersten praktizierenden Einrichtungen (seit ca. 1975) war die Göttinger Schmerzambulanz, die von Beginn als eine interdisziplinäre Einrichtung konzipiert war. Aktuell arbeiten neben mehreren Ärzten (mit Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie") zwei Psychologen (Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerzpsychotherapie"), Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler und Krankenpflegepersonal gemeinsam und in Kooperation mit dem Patienten an der Behandlung ihrer akuten und chronischen Schmerzen.
Schmerz ist etwas Besonderes: Spezialisierung
Schmerz ist ein komplexes bio-psycho-soziales Geschehen. Bei akuten Erkrankungen hat der Schmerz eine wichtige Warnfunktion, der chronische Schmerz hat diese Funktion jedoch verloren. Chronische Schmerzen sind i.d.R. mit einem ausgeprägten Verlust an Lebensqualität verbunden und führen letztendlich zu einer Situation, in der sich der Schmerz von seiner ursprünglichen Krankheitsursache abgekoppelt hat und zu einer eigenständigen Schmerzkrankheit wird. Dabei spielen psychologische Faktoren eine bedeutsame Rolle, u. a. wirken Aufmerksamkeitslenkungen oder Attributionsvorgänge als kognitive Mechanismen in das Gesamtgeschehen ein. Dazu kommt das individuelle Verhalten der Betroffenen, das in entscheidender Weise die Chronifizierung begünstigen kann. Des Weiteren spielen sowohl Lernmechanismen als auch emotionale Reaktionen eine wichtige Rolle. Die Behandlung chronischer Schmerzen erfordert besondere Kenntnisse und therapeutische Fertigkeiten, speziell abgestimmte therapeutische Ansätze sowie die Fähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Behandlungskonzept muss das bio-psycho-soziale Bedingungsgefüge chronischer Schmerzen berücksichtigen, und es müssen langfristig angelegte therapeutische Strategien zur Anwendung kommen.
Bei mulifaktorieller Konstellation: Mehrdimensionale Behandlung
Die Zunahme komplexer und schwer chronifizierter Schmerzbilder stellt die schmerztherapeutischen Einrichtungen vor große Herausforderungen. Die Patienten haben i. d. R. großflächig ausgebreitete Schmerzen, häufig begleitet von weiteren, organisch nicht erklärbaren körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Übelkeit, Kloßgefühl, Atembeschwerden, Schlafstörungen oder Tinnitus. Oftmals kommt es infolge des ausgeprägten Krankheitsverhaltens (starke Reduzierung von alltäglichen Aktivitäten) auf der körperlichen Ebene zu strukturellen und funktionellen Veränderungen. Umfassende Leistungsverluste, die begleitende Depressivität oder auch Angststörungen sowie der soziale Rückzug ziehen erhebliche Einschränkungen der Funktionsfähigkeit in Beruf und Alltag nach sich. Häufig werden diese Patienten zu spät an schmerztherapeutische Einrichtungen überwiesen, wodurch ihre Behandlung sehr erschwert wird. Bei diesen stark chronifizierten Patienten ist eine monokausale, auf organische Ursachen reduzierte Betrachtungsweise nicht ausreichend. Körperliche, seelische und soziale Faktoren wirken gemeinsam an der Chronifizierung mit und müssen sowohl in ihrer ätiologischen Zuordnung als auch in ihrer aufrechterhaltenden Bedeutung berücksichtigt werden. Notwendig ist dafür ein interdisziplinär spezialisiertes Team.
Multimodale Therapie
Als „multimodale Schmerztherapie" wird eine inhaltlich eng abgestimmte multidisziplinäre und integrative Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen bezeichnet, die in Kleingruppen bis acht Patienten stattfindet (OPS-Ziffer 8-91c). Somatische, körperlich übende sowie psychotherapeutische Verfahren sind in ein übergeordnetes Konzept eingebunden. Neben der Optimierung der medikamentös-analgetischen Einstellung kommen vor allem körperlich und psychologisch übende Verfahren zur Anwendung. Wichtig ist die parallele Vermittlung von Kenntnissen z. B. über Funktionsweise und Anatomie des Körpers, über Hintergründe chronischer Schmerzen sowie über Zusammenhänge mit psychosozialen Faktoren. Hinzu kommen Entspannungsfördernde Verfahren, Körperwahrnehmungsübungen sowie ein individualisiertes Training von Arbeits- und Alltagsbewegungen.
Die Behandlung wird von einem festen Therapeutenteam aus Ärzten, Psychologen bzw. Psychotherapeuten sowie Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten erbracht. Obligat ist eine gemeinsame Beurteilung des Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger Teambesprechungen unter Einbindung aller Therapeuten. Zentrales Behandlungsziel ist die Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit mit Steigerung von Kontrollfähigkeit und Kompetenzgefühl der Betroffenen. Die Behandlung wird in weiten Teilen nach verhaltenstherapeutischen Prinzipien durchgeführt. Bei stark chronifizierten Patienten ist eine Therapieintensität von mindestens 100 Std. notwendig. Über vorgegebene Struktur- und Prozessßkriterien (u. a. Qualifikation der Teammitglieder, Dauer der Therapieeinheiten, limitierte Gruppengröße, tägliche Visiten, regelmäßige ärztliche und psychologische Einzelbehandlungen, Teambesprechungen) kann die Qualität der Behandlung weitgehend abgesichert werden.
In der Schmerztagesklinik und -ambulanz im Göttinger Universitätsklinikum (UMG) besteht in Deutschland die längste Erfahrung mit solchen Behandlungsprogrammen; sie werden bereits seit über 20 Jahren angeboten. Mittlerweile wurden mehr als 2.000 Patienten auf diese Art und Weise behandelt. Internationale Studien belegen, dass diese Behandlung anderen Therapiearten nachweislich überlegen ist.
Während die multimodale Schmerztherapie im Krankenhaussektor (stationäre und teilstationäre Behandlung) zumindest grundsätzlich verankert ist, sind bisher im ambulanten Sektor keinerlei vergleichbare Möglichkeiten gegeben.