Neue Infrastruktur für Diagnosen und Therapiewege
Zentrum für seltene Erkrankungen an der Uniklinik Tübingen gegründet
Bundespräsident Horst Köhler und seine Frau Eva Luise gründeten im Jahr 2006 die ihre Namen tragende „Stiftung für Menschen mit seltenen Erkrankungen". Anlässlich der Gründung des ersten Zentrums für seltene Erkrankungen (ZSE) in Deutschland hielt am 22. Januar Eva Köhler an der Uniklinik Tübingen die Eröffnungsrede. Patienten mit seltenen Erkrankungen sollten schneller als bisher diagnostiziert werden, betonte sie, damit ihnen früh, kompetent und effektiv geholfen werden kann. Prof. Dr. Olaf Riess, Vorstandssprecher des ZSE, wünschte sich weitere solcher Zentren an deutschen Unikliniken, um die Diagnosen von seltenen Erkrankungen zu forcieren.
Die Stiftung für Menschen mit seltenen Erkrankungen stellt finanzielle Mittel für die Ätiologie sowie die Therapieforschung bereit und vergibt alljährlich den nach ihr benannten, mit 50.000 € dotierten Forschungspreis für seltene Erkrankungen. Am Uniklinikum Tübingen (UKT) werden keine neuen, großen Verwaltungs- und Büro-Strukturen geschaffen. Das ZSE, das am 1. Januar seine Arbeit aufnahm, beinhaltet im Wesentlichen eine verbesserte Zusammenarbeit einzelner Fachbereiche sowie interdisziplinäre Zusammenschlüsse von Kliniken und medizinisch-biologischen Instituten. Als seltene Erkrankungen gelten solche, die bei weniger als fünf pro 10.000 Menschen (Prävalenz unter 0,5o/oo) auftreten. Dies muss nicht gleichbedeutend mit einer kleinen Zahl von Patienten sein, denn allein in Deutschland leiden über drei Millionen Menschen an seltenen Erkrankungen, die meist einen chronischen Verlauf nehmen und genetisch bedingt sind.
Anlaufstation für Patienten mit seltenen Erkrankungen
Für die 6.000-8.000 seltenen Erkrankungen gibt es derzeit weder eine medizinische Versorgung noch ausreichende Diagnose- oder Therapiemöglichkeiten. Überdies handelt es sich oft um schwerwiegende Erkrankungen, die eine aufwendige Behandlung und medizinische Betreuung der vielfach jungen Patienten erfordern. Für die Gründung des ZSE stellte die Medizinische Fakultät eine Anschubfinanzierung von 100.000 € zur Verfügung. Einzelne Fachabteilungen beteiligen sich ebenfalls an den Kosten, indem sie Ärzte und Pflegepersonal für die Behandlung abstellen. Hier eine Übersicht über die ersten sechs Spezialzentren des ZSE am UKT:
Zentrum für seltene neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen (ZSNE): Ataxien, Choreatische Bewegungsstörungen, Spastische Spinalparalysen, Leukodystrophien, Syndromale Entwicklungsstörungen,
Interdiszipinäres Zentrum für Mukoviszidose Tübingen-Stuttgart (IMZTS bzw. (Comprehensive Cystic Fibrosis Center (CCFC): Behandlung der Mukoviszidose,
Zentrum für Seltene Augenerkrankungen (ZSA): Erbliche Netzhauterkrankungen, Zapfendystrophien und Zapfen/Stäbchendystrophien, Usher-Syndrom, Stargardt'sche Maculadegeneration, Beidseitige Optikusatrophien, Seltene Glaukomerkrankungen,
Zentrum für Seltene Hauterkrankungen (ZSH): Genetische Instabilität, Ektodermale Dysplasie, Schwere Hautfragilitäts-Syndrome, Seltene Autoimmunkrankheiten, Sklerodermie, Mastozytose, Kongenitale Melanozytäre Nävi,
Zentrum für Seltene kongenitale Infektionserkrankungen (ZSKI): Kongenitale, symptomatische CMV-Erkrankung des Neugeborenen,
Zentrum für Seltene genitale Fehlbildungen der Frau (ZSGF): Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH-Syndrom), Partielles/Komplettes Androgeninsensitivitätssyndrom (p/cAIS), Isolierte Vaginalaplasie, Genitale Doppelbildungen, Zervixhypoplasien.
Betroffene Patienten können sich an die entsprechenden Spezialambulanzen wenden und erhalten dort eine interdisziplinär abgestimmte Behandlung nach neuestem Kenntnisstand. Überdies verfügt das ZSE Tübingen über die diagnostischen Möglichkeiten eines universitären Hochleistungszentrum, teilt Dr. Holm Grässner, Geschäftsführer des ZSE, mit. Kooperiert wird auch mit externen Kliniken und Instituten wie der in Tübingen ansässigen Hertie-Stiftung für klinische Hirnforschung.
Weitere Spezialzentren für seltene Erkrankungen am UKT sind in Planung. Von Vorteil ist hierbei, dass das BMBF seit dem Jahr 2003 krankheitsspezifische Netzwerke fördert und von 2008-2017 insgesamt 16 Verbünden für seltene Erkrankungen jährlich 7,5 Mio. € zur Verfügung stellt. Prof. Bernd Wissinger vom Labor für molekulare Diagnostik des UKT koordiniert den Verbund „erbliche Netzhauterkrankungen". Er richtete in diesem Rahmen eine DNA-Proben- und Patienten-Datenbank für erbliche Augenerkrankungen ein, die bereits über 7.000 DNA-Proben von Patienten und deren Familienangehörigen umfasst.
Erste wichtige Schritte
Eine Heilung seltener Erkrankungen ist nach Mitteilung von ZSE-Geschäftsführer Dr. Holm Grässner bisher nur in seltenen Fällen möglich. Doch eine sichere Diagnose sollte einem Patienten mit einer seltenen Erkrankung ermöglicht werden. Dr. Grässner berichtete weiter von der Einrichtung einer Biodatenbank für die Speicherung von Biomaterialien wie DNA, RNA, Hautbiopsien etc. Zusätzlich wird ein Patientenregister angelegt, in dem Daten zu Häufigkeit, klinischer Symptomatik und Langzeitverlauf der seltenen Erkrankung gespeichert werden. Weiter plant das ZSE-Tübingen in begründeten Einzelfällen die Durchführung von klinischen Studien, die möglicherweise einen ersten Therapieweg aufzeigen. Für die UKT-Ärzte liegen die Vorteile des ZSE auf der Hand:
- Sie lernen seltene Erkrankungen verstehen;
- sie erfahren mehr über Prävalenzen, Erscheinungsbilder und genetische Ursachen;
- sie finden sich in nationalen und internationalen Forschungsverbünden zusammen;
- die Ergebnisse gelangen rasch vom Labor ans Krankenbett: der Vorteil der translationalen Forschung;
- die Grundlagenforschung kann vorangetrieben, werden und Therapiestudien können Abteilungs-übergreifend geplant und durchgeführt werden.