Labor & Diagnostik

Aufspüren seltener Erkrankungen

01.03.2021 - Die Gen-Diagnostik hilft Spezialisten in einem Drittel der Fälle die Ursache von seltenen Erkrankungen zu finden.

Das Aufspüren seltener Erkrankungen, die Wahl einer adäquaten und sicheren Therapie sowie die engmaschige Überwachung der betroffenen Patienten bleibt eine große Herausforderung. Sie lässt sich nur fachübergreifend, arbeitsteilig und im Rahmen eines internationalen Netzwerks leisten. Darauf weist das Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden anlässlich des Welttags der Seltenen Erkrankungen hin. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind.

Ein Spezialgebiet des Dresdner UniversitätsCentrums für Seltene Erkrankungen (USE) ist die Diagnose und Behandlung seltener Erkrankungen des Immunsystems. Derzeit befindet sich das Zentrum im Aufnahmeverfahren für das mit EU-Geldern geförderte Europäische Referenznetzwerk „The Rare Immunodeficiency, AutoInflammatory and AutoImmune Disease network“ (ERN-RITA).

Daniel, Jessica-Emilia und Marcel sind drei Patienten mit einer seltenen Erkrankung. Anlässlich des Welttags am 28. Februar sind die drei gern bereit, offen über ihre Krankheiten zu sprechen. Die Bandbreite der Symptome und die Konsequenzen ihrer Erkrankungen sind so vielfältig wie die dahinterstehenden Geschichten sowie die Aktivitäten der Spezialisten des Dresdner Uniklinikums. Diese fahnden nach einer Diagnose, um eine möglichst erfolgreiche Therapie und die kontinuierliche, engmaschige Betreuung dieser Patienten zu gewährleisten. „Im Rahmen des USE sehen wir Neugeborene wie Daniel, der unter genetisch bedingtem Diabetes leidet, und auch Erwachsene wie Marcel, der von einem Tag zum anderen mit den Symptomen einer schwerwiegenden neurologischen Erkrankung konfrontiert wurde. Typisch ist auch Jessica-Emilias Schicksal. Die Symptome zeigten sich frühzeitig, aber deren Ursache wurde erst nach einer mehrjährigen Odyssee gefunden“, sagt Prof. Reinhard Berner, Sprecher des UniversitätsCentrums für Seltene Erkrankungen. „Entscheidend ist das Zusammenwirken vieler Experten in interdisziplinären Fallkonferenzen, wie sie nur in Zentren vorgehalten werden kann.“ „Es gibt nach wie vor großen Handlungsbedarf bei der Diagnose und der anschließenden Behandlung dieser Krankheitsbilder. Das betrifft nicht nur den weiteren Aufbau und Betrieb der dafür notwendigen Zentrumsstrukturen in den spezialisierten Krankenhäusern. Auch das Bewusstsein von Kliniken und niedergelassenen Ärzten für seltene Erkrankungen sowie das Wissen um die Existenz von Zentren, gilt es auszubauen“, sagt Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Dresdner Uniklinikums. „Mit dem USE haben wir dafür eine exzellente Basis geschaffen. Doch es bedarf einer dauerhaften wie auskömmlichen Finanzierung, um die laufende Versorgung der Patienten und die weitere Förderung der damit verbundenen Forschungsaktivitäten dauerhaft sicherzustellen.“

Auch 2020 wurde dem USE ein breites Spektrum an Patienten vorgestellt, bei denen eine seltene Erkrankung vermutet wurde. Lediglich ein Teil davon ist bereits vorher im Dresdner Uniklinikum behandelt worden. Die interdisziplinäre Fallkonferenz des USE hat schließlich 130 Patienten besprochen. Dank der Kooperation mit der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik ist es nun möglich, alle Patientenanliegen und Beschwerdebilder abzudecken. Der Fokus im USE liegt neben der interdisziplinären Diagnostik und Therapie auch auf der genetischen Abklärung. Im vergangenen Jahr ließen sich auf der Basis von Genanalysen rund 30 Prozent der Fälle aufklären.

Bei Daniels Diabetes wirken kleine Pillen genauso gut wie Insulinspritzen

Für seine Größe von 51 Zentimetern war Daniel bei seiner Geburt mit 2.575 Gramm viel zu schmächtig. Dies allein ist noch kein Grund für große Besorgnis. Die Eltern waren überglücklich, hatten sie doch lange um dieses Kind kämpfen müssen. Eine erste Blutzuckerbestimmung bei Entlassung aus der Geburtsklinik war etwas erhöht, so dass der niedergelassene Kinderarzt um erhöhte Sensibilität gebeten wurde. Bereits am fünften Lebenstag wies dieser das Baby mit dem Verdacht auf einen angeborenen Diabetes in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Dresdner Uniklinikums ein. Bei Kindern ab sechs Monaten erkranken 14 von 100.000 an einem autoimmunen Diabetes mellitus Typ 1 und werden mit Insulin behandelt. Bei Neugeborenen dagegen ist Diabetes eine absolut seltene Diagnose, denn dieser entsteht ganz anders. Er wird auf einem Gen vererbt, was nur bei einer von 100.000 Geburten vorkommt.

Um Daniel vor einer lebensbedrohlichen Krise zu bewahren, musste auch er umgehend Insulin injiziert bekommen. Eine halbe Einheit Insulin am Tag und dafür Stillen nach der Uhr. Ein Gedanke, der seine Eltern verzweifeln ließ: Würde ihr lang ersehntes Wunschkind ein Leben lang eng überwacht werden und nur mit Insulinpumpe überleben? Der heute Zweieinhalbjährige wurde ab sofort von einer erfahrenen Kinderdiabetologin intensiv betreut: Die Leiterin des Kinderdiabeteszentrums, Dr. Andrea Näke, konnte innerhalb kürzester Zeit die Weichen für die weitere Behandlung von Daniel stellen.

Ein Gentest bestätigt die Diagnose Neonataler Diabetes mellitus (NDM), bei der die an der Insulinproduktion beteiligten Betazellen einen genetischen Defekt aufweisen. Aber es gibt eine schonende Therapie. Daniels Blutzuckerspiegel kann mit einem Wirkstoff behandelt werden, den routinemäßig Patienten mit Diabetes Typ II bekommen. Die oral verabreichten Sulfonylharnstoffe fördern die Freisetzung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse. Die in den verfügbaren Tabletten enthaltene Dosierung ist nur für Erwachsene geeignet. Deshalb stellt eine Apotheke nach guter Absprache individuell Kapseln mit 0,01 Milligramm her, die dann nach Körpergewicht dosiert werden müssen. Mittlerweile hat sich ein Hersteller des Problems angenommen und bietet den Wirkstoff als Suspension an. Medikamente für seltene Erkrankungen, „Orphan Drugs“ sind aufgrund der Entwicklungskosten und des kleinen Absatzmarktes sehr teuer und so kostet auch dieser altbekannte Wirkstoff als Orphan Drug ein Vielfaches des sonst Üblichen.

Daniel hat die transiente Form der Erkrankung und braucht derzeit keine Therapie. Dr. Andrea Näke schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann doch insulinpflichtig wird, auf etwa 50 % ein. Bis dahin gibt es lediglich regelmäßig Kontrolltermine in der Diabetesambulanz der Dresdner Uni-Kinderklinik und die Vorfreude auf ein Geschwisterkind.

Innovative Immuntherapie gegen Marcels Muskelschwäche

Die Symptome der Myasthenie trafen Marcel Welk nahezu über Nacht. Als Teenager trainierte der damals 17-Jährige für die Schwimmmeisterschaften und war bereits mehrere Jahre als Rettungsschwimmer bei der DLRG tätig, was ihn sehr prägte. Doch plötzlich fühlten sich seine Beine schlapp an, sein Trainingspensum schaffte der heute 35-Jährige nicht mehr, weil sein Körper immer schneller ermüdete. Das Wort Myasthenie kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt Muskelschwäche. Schwach sind die aber nur, weil die Übertragung der Impulse an der Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel gestört ist. Grund dafür ist eine Autoimmunerkrankung, die bei etwa 100 von einer Millionen Personen auftritt.

Je nach Schwere der Erkrankung lässt sich die Myasthenie gut mit Medikamenten behandeln, auch wenn sie nicht heilbar ist. Auch bei Marcel Welk verliefen die ersten Jahre nach der Diagnose noch ohne massive gesundheitliche Einschränkungen. Doch bereits im Alter von 20 Jahren zeigte sich, dass die Medikamente ihre Wirkung verloren haben. Seitdem steht Dr. Ulrike Reuner von der Klinik für Neurologie im Uniklinikum Dresden dem noch jungen Patienten zur Seite. Seine Erkrankung ist nicht nur selten, sondern auch sehr komplex. Dies bedeutet, dass das Ärzteteam der Neurologie kontinuierlich andere Fachbereiche mit einbeziehen muss.

Parallel ist Dr. Reuner immer wieder damit beschäftigt gewesen, mögliche Alternativen zu bestehenden Therapien zu finden. Trotzdem kam es beim Wettlauf zwischen neu verfügbaren Wirkstoffen und den immer schwerer werdenden Symptomen bei ihrem Patienten immer wieder zu lebensbedrohlichen Krisen. Eine der Ursachen dafür war, dass die Krankheit auch die Atemmuskulatur betreffen kann. Mehrmals wurde Marcel deshalb auf die neurologische Intensivstation eingeliefert und wurde künstlich beatmet. Dr. Reuner begleitete ihn auch in diesen Phasen.

Über fünf Jahre saß Marcel Welk im Rollstuhl, da sein Körper zu schwach zum Gehen war. Dass es ihm mittlerweile besser geht, liegt an einer modernen immunmodulierenden Therapie, die er mittlerweile seit drei Jahren bekommt. Dank des neuen Medikaments konnte er den Rollstuhl wieder verlassen und hat erheblich an Lebensqualität gewonnen. Alle zwei Wochen kommt Marcel nun ins Uniklinikum, wo ihm das Medikament per Infusion verabreicht wird. Doch bevor damit Ende 2017 begonnen wurde, erarbeitete das Team um Dr. Reuner eine Standard Operating Procedure – kurz SOP – eine mehrseitige, umfassend recherchierte Verfahrensanweisung. Nur so lassen sich die mit der Gabe verbundenen Risiken minimieren.

Für Marcel Welk bedeutete das Jahr 2017 nicht nur medizinisch einen Wendepunkt. Seitdem ist er glücklich verheiratet: „Meine Frau und mein siebenjähriger Sohn haben mir in meiner schwersten Zeit immer zur Seite gestanden“, berichtet er.

Jessica Emilias Klinik-Odyssee endet erst nach Jahren

Dass Jessica-Emilia im Kindergartenalter ab und an einmal mit Fieber über mehrere Tage zu Hause bleiben musste, hatte ihre Eltern noch nicht beunruhigt. Auch ihr größerer Bruder machte in diesem Alter viele Infekte durch, die oft von Fieber begleitet waren. Die Fieberschübe bei Jessica-Emilia entwickelten sich dagegen anders – sie waren keine Vorboten von anderen Erkrankungen. Als Siebenjährige wurden die Fieberschübe immer heftiger. Das Thermometer kletterte auf 41 Grad Celsius. Weder mit Antibiotika noch mit fiebersenkenden Medikamenten ließ sich die Temperatur anhaltend senken.

Deshalb bestanden die Eltern auf eine umfassende Untersuchung des Blutes. Dabei gab es nur einen Wert, der anzeigte, dass bei Jessica-Emilia etwas nicht stimmte: In ihrem Blut wurden über 100 Milligramm pro Liter des Plasma-Eiweißes CRP nachgewiesen – etwa das Zwanzigfache des Normalwerts. Dieses Eiweiß ist ein Indikator für Infektionen, Entzündungen oder Gewebsschäden. Der viel zu hohe Wert war Anlass genug, das Mädchen in die nahegelegene Kinderklinik einzuweisen. Doch die Ärzte fanden dort keine weiteren Hinweise auf eine Grunderkrankung. Zwar litt Jessica-Emilia neben dem Fieber unter unspezifischen Kopf- und Bauchschmerzen, aber mehr als fiebersenkende Medikamente und Antibiotika konnten die Klinikärzte aufgrund der fehlenden Diagnose nicht verordnen.

Bei einem erneuten ungewöhnlich heftigen, von deutlichen Muskel- und Gelenkschmerzen begleiten Fieberschub, wurde die mittlerweile Neunjährige in eine Berliner Kinderklinik eingewiesen. Über die Notaufnahme kam sie aber nicht hinaus. Die Familie wurde wieder nach Hause geschickt. Immerhin erhielt sie einen Termin in der dortigen Immunologischen Ambulanz, der allerdings erst fünf Monate später stattfinden sollte.

Mit den immer regelmäßiger auftretenden Fieberschüben stieg der Leidensdruck. Jessica-Emilia war so geschwächt, dass sie irgendwann nicht mehr regelmäßig zur Schule gehen konnte. Ihre Mutter hatte inzwischen intensiv recherchiert und stieß dabei auf das Zentrum für Seltene Erkrankungen eines Uniklinikums in Baden-Württemberg. Dort wurde ihr nicht nur ein Termin angeboten, sondern darum gebeten, in der fünfmonatigen Wartezeit ein Fiebertagebuch zu führen und einen Gentest zu machen.

Doch die immer heftigeren Fieberschübe hielten die Familie und die behandelnden Ärzte weiter in Atem. Es folgte die erste Einweisung ins Dresdner Uniklinikum. Auch hier wurde entschieden, einen Termin in der Spezialambulanz anzuberaumen und Jessica-Emilia bis dahin wieder nach Hause zu entlassen. Ein nächster heftiger Fieberschub schwächte das Mädchen jedoch so, dass sie nicht mehr allein aus dem Bett kam und sie deshalb erneut in die lokale Kinderklink eingeliefert werden musste. Dort stellten die Ärzte einen CRP-Wert von 300 Milligramm pro Liter fest, der weiter anstieg. Nach fünf Tagen Krankenhausaufenthalt wurde Jessica-Emilia notfallmäßig ans Dresdner Uniklinikum verlegt – drei Tage vor dem dort ursprünglich anberaumten Termin in der Spezialsprechstunde.

Im Rahmen des stationären Aufenthalts nahm sich auch die auf pädiatrische Immunologie spezialisierte Prof. Catharina Schütz Jessica-Emilias Leidensgeschichte an. Es konnten zahlreiche mit Fieberschüben verbundene Krankheitsbilder ausgeschlossen und auf der Basis eines Gentests endlich eine Diagnose gestellt werden. Das Mädchen leidet unter dem TRAPS-Syndrom. Die fünf Buchstaben stehen für eine Kombination ganz unterschiedlicher Krankheitsmerkmale. Auslöser ist die angeborene Anomalie eines Proteins mit dem Namen „Tumor-Nekrose-Faktor-Rezeptor 1“. Es verursacht bei den Patienten eine gesteigerte Entzündungsreaktion. Die Herausforderung bestand nun darin, eine krankheitsspezifische Therapie zu finden. Bei der Auswahl der Medikamente und der Dosierung ging das auf Immunologie spezialisierte Team sehr behutsam vor.

Um die Symptome zu lindern, werden übliche antientzündliche Medikamente eingesetzt. Eine weitere Option besteht darin, den für die überschießende Immunreaktion und damit das Fieber relevanten Rezeptor zu blockieren beziehungsweise die überschüssigen Botenstoffe zu neutralisieren. Seit November 2019 bekommt Jessica-Emilia ein entsprechendes Medikament in dreiwöchentlichen Abständen unter die Haut gespritzt. Zwar hat sie weiterhin leichte Schübe, aber es sind weniger geworden, die zudem auch nicht mehr so heftig ausfallen. Ein gutes Zeichen für den Erfolg der Therapie ist, dass die mittlerweile Elfjährige auch ihren Schulalltag wieder meistern kann, was sich in guten Noten widerspiegelt, wie der Vater stolz bei einem der Kontrolltermine in der immunologischen Spezialambulanz der Dresdner Uni-Kinderklinik berichtet. „Wir sind sehr dankbar dafür, dass sich Frau Prof. Schütz so intensiv um unsere Tochter kümmert und sie bei Fragen rund um die Uhr für uns erreichbar ist“, ergänzt Jessica-Emilias Mutter.

Ein besonderer Fokus des USE in Dresden sind gerade solche autoinflammatorischen und Autoimmunerkrankungen. Ursache sind meist angeborene Störungen im Immunsystem, die fehlgesteuerte Immunreaktionen hervorrufen und zu chronischen Entzündungen in verschiedenen Organen führen können. Die Arbeitsgruppe von Prof. Min Ae Lee-Kirsch – sie ist stellvertretende Sprecherin des USE – gehört zu den international führenden Forschenden auf dem Gebiet der Interferonopathien. Aufgrund dieser besonderen Expertise kommen Patienten und Familien nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus dem europäischen Ausland nach Dresden, um sich hier am USE vorzustellen. Dank dieser Expertise befindet sich das Zentrum nunmehr im Aufnahmeverfahren für das mit EU-Geldern geförderte Europäische Referenznetzwerk „The Rare Immunode-ficiency, AutoInflammatory and AutoImmune Disease network“ (ERN-RITA).

Kontakt

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus ­Dresden

Fetscherstr. 74
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