Unternehmen

Chirurgie-Systemtechnik in Leipzig - Die beinahe unbemerkte Revolution (Teil 2)

Interview mit Prof. Dr. Gero Strauss, Director des IRDC

16.05.2011 -

An der ACQUA Klinik Leipzig kann man erleben, wie weit das neue Denken die Chirurgie verändert. Vom Check-In mit Patiententicket samt RFID-Kennung, über die Programmierung des Navigationssystems, der animierte Aufklärungsfilm für den Patienten, den OP-Report mit den kommentierten Abschnitten der Operation, alles erinnert sehr an die perfekt organisierten Abläufe eines Fluges.Wir treffen Gero Strauss, Director des IRDC zu einem Gespräch:

M&K: Die Welt der Medizingeräte schaut auf Leipzig, auf den sogenannten Medizintechnik-Cluster, der hier entstanden ist und längst schon Sachsen einbezogen hat. Was ist passiert?

Prof. Gero Strauß: Am Anfang stand die Idee von Klinikern und begeisterten Technikern, den OP und die damit zusammenhängende Logistik zu verändern. Wir haben das große Glück, von Anfang an mit Ingenieuren wir Prof. Tim Lüth (TU München) zusammenzuarbeiten, die Weltspitze im Bereich Medizin- und Medizingerätetechnik sind. Doch wie jeder guten Idee fehlten uns zunächst die Investoren. Zu unserem großen Glück hat diese Rolle das BMBF mit der Initiative „Unternehmen Region" übernommen und bürgt auch heute noch gemeinsam mit der Universität dafür, dass der theoretische Hintergrund weiter wächst und die Grundlagen für die späteren Anwendungen schafft. Dann kamen Unternehmen wie Karl Storz oder MedPlan hinzu, die den Aktivitäten dann schrittweise die Wirklichkeiten und Erfordernisse des Marktes beibrachten. Das war erwartungsgemäß der schwerste Schritt, denn nicht jede gute Idee wird auch zu einem guten Produkt.

Was unterscheidet den OP der Zukunft von den heute gebräuchlichen Systemen?

Prof. Gero Strauß: Lassen Sie mich zunächst betonen, was gleich geblieben ist: die Konzentration auf den Patienten und dessen bestmögliche Behandlung. Das ist aber fast schon alles an Gemeinsamkeiten und es fällt schwer, in Kürze die Unterschiede zu beschreiben. Die wichtigsten Punkte sind: wir verstehen einen OP der nächsten Generation als Systemlösung, die von der ersten Untersuchung über den OP bis hin zur Nachsorge alle Informationen und Arbeitsschritte umfasst. Die zwei großen Herausforderungen heißen hier Standardisierung, Automation und Logistik. Übrigens nicht unsere Erfindung, sondern in allen erfolgreichen Industriebranchen ein lange akzeptiertes und praktiziertes Prinzip.

Automatisieren lässt den Leser an Roboter, menschenleere Fabriken oder große Kontrollräume denken. Ist die Technik denn schon so weit?

Prof. Gero Strauß: Nein, und es ist fraglich, ob das überhaupt das Ziel der Entwicklung sein sollte. Wir müssen akzeptieren, dass die Chirurgie den Erfahrungen aus anderen Wirtschaftsbereichen viele Jahre oder Jahrzehnte hinterherläuft. Deshalb realisieren wir eine moderate Automation, keine autonomen Roboter zum Fräsen oder die Therapie, die aus dem Computer kommt.

Das wäre so, als wenn Sie den Schritt vom Propellerflugzeug zur autonomen Flugmaschine ohne den Zwischenschritt Autopilot gehen wollen. Wir gehen diese Aufgabe mit großem Respekt und dem Wissen an, dass Chirurgie besonders anfällig für Dogmen und Ängste ist.

Was bedeutet denn dann chirurgische Automation, ein Autopilot für Chirurgen?

Prof. Gero Strauß: Ja, man kann diesen Vergleich ziehen. Wir programmieren unsere chirurgischen Instrumente so, dass sie den Operateur selbstständig vor eventuellen Gefahren warnen oder im Notfall vor einem wichtigen Nerv oder Gefäß stoppen. Dem Chirurgen bleibt immer das letzte Wort überlassen, er kann die Systeme jederzeit überstimmen. Und in bestimmten Phasen der OP ist er gehalten, ohne „Autopilot" zu operieren.

Das klingt trotzdem danach, als würde der Chirurg in Zukunft nicht mehr die Rolle spielen, die er heute innehat. Kein „Gott in Weiß" mehr?

Prof. Gero Strauß: Vergleichen Sie die aktuelle Situation eher mit Kunsthandwerkern. Tatsächlich trifft diese Beschreibung auf unsere heutige Arbeit am besten zu. Wir lösen vergleichbare Aufgaben ziemlich individuell. Unsere gesamten Fähigkeiten, aber auch die individuellen Schwächen haben einen großen Einfluss auf das unmittelbare Ergebnis.

Damit muten wir uns Chirurgen auch zu, eine hohe Komplexität an Informationen, Modellen und Vorhersagen zu überschauen. Und diese Komplexität nimmt täglich zu, mit jedem neuen CT-Scanner, jedem neuen Tumormarker oder Ergebnisbericht. Hier ist eine kritische Grenze erreicht. Unsere Arbeitsweise, unsere Arbeitsplätze und die Sichtweise auf die Chirurgie insgesamt müssen sich dem anpassen und verändern.

Was ist mit den Fertigkeitsverlusten, die diese neuen Assistenzsysteme mit sich bringen? Gibt es dann im OR1 next Generation überhaupt noch Operateure, die auch ohne diese Systeme operieren können?

Prof. Gero Strauß: Diese Frage liegt nahe und ist gleichzeitig einfach zu beantworten. Wie die Piloten eines Verkehrsflugzeugs müssen auch unsere Chirurgen immer und immer wieder am Simulator solche Situationen erleben, reagieren und meistern. Nur dann werden Sie für die Tätigkeit im OR1 Next Generation zertifiziert bleiben.

Was sind Ihre Erwartungen an das neue OP-System OR1-next Generation, das am IRDC mitentwickelt und evaluiert wird?

Prof. Gero Strauß: Wir möchten dem Patienten eine standardisierte hohe Qualität bieten. Durch immer mehr Assistenzsysteme möchten wir den Chirurgen unterstützen und die Ergebnisse verbessern. Der Patient soll dadurch noch schneller und komfortabler gesund werden.

Und diese Therapie wird wahrscheinlich wieder einmal teurer, wer soll das alles bezahlen?

Prof. Gero Strauß: Nein, das können wir uns nicht erlauben. Allen Beteiligten ist bewusst, dass eine weitere Steigerung der Kosten für Gesundheit auf Dauer nicht zu tragen sein wird. Wenn Sie jedoch die Organisation einer chirurgischen Klinik heute mit der einer Fabrik vergleichen, so sehen Sie gewaltige Defizite, die sich keinesfalls mit moralischen oder ethischen Vorbehalten erklären lassen. Durch geschickte Logistik müssen wir das Spannungsfeld Patientensicherheit und Effizienz in ein vernünftiges Verhältnis bringen.

Bitte nennen Sie uns ein Beispiel.

Prof. Gero Strauß: Heutzutage werden auch an gut organisierten Kliniken nur 35% der OP-Saal-Kapazitäten genutzt! Zugegeben, die dafür notwendigen Ressourcen sind kompliziert zu managen. Narkoseärzte, OP-Crew, OP-Saal, Patient, Instrumente, Lagerungspersonal, Patientenzimmer sind nur die wichtigsten Parameter. Und in den meisten Kliniken wird nur in den Zeiten zwischen 7:00-16:00 regulär operiert. Keine Produktionslinie, kein Flugzeug, kein Zug mit annähernd hohen Investitionskosten würde mit diesen Kennziffern wirtschaftlich arbeiten.

Das klingt nach einer zweiten großen Herausforderung?

Prof. Gero Strauß: Das ist wahr, neben der Automation unserer eigentlichen chirurgischen Tätigkeit müssen wir die Logistik der Arbeitsabläufe verändern, in vielen Fällen komplett umkrempeln. Allein 1/3 unserer Ressourcen verwenden wir heute auf die Kooperation mit Unternehmen, die sich auf Logistik im OP-Betrieb spezialisiert haben.

Wie ist die Resonanz Ihrer Fachkollegen? Gab es nicht bislang immer heftige Kritik an vergleichbaren Initiativen, die zu einer Effizienzsteigerung führen sollten?

Prof. Gero Strauß: Wir Chirurgen sind viel innovativer als uns das manchmal zugetraut wird. Wir wissen, welche Verantwortung wir bei unserer täglichen Arbeit tragen. Der Fortschritt in der Medizin verlangt von uns, die Kosten, die wir dadurch veranlassen auch so wirksam wie möglich einzusetzen.

Die Einstellung „Ich kümmere mich nicht um die Effizienz, es geht hier nur um meinen Patienten und nur ich weiß, was richtig ist" ist unaufrichtig und auch kaum noch anzutreffen. Dazu kommt, dass wir am besten wissen, welche zusätzlichen Möglichkeiten sich durch Medizintechnik ergeben, viel mehr als wir mit eigener Kraft noch vor Jahren leisten konnten. Wir möchten diese Entwicklung aber selber gestalten und nicht von fachunkundigen „Experten" vorgesetzt bekommen.

Und die Patienten? Trauen sie Ihrer Vorstellung von einem hochtechnisierten OP? Ist ihnen wohl bei der Vorstellung, dass der Chirurg ein Teil seines Könnens an Assistenzsysteme abgibt und Teil einer ausgeklügelten Logistik ist?

Prof. Gero Strauß: Erlauben Sie mir eine Gegenfrage? Welcher Passagier eines modernen Verkehrsflugzeugs mit Flughafenlogistik, Autopilot, Kollisionswarnsystemen, Nachtsichtautomatik, Flugsicherung und regelmäßigen Trainings würde es bevorzugen, sicherheitshalber einen Flug ohne Board Systeme, einfach so nach Sicht und Gefühl des erfahrenen älteren Chirurgen zu absolvieren? Niemand, weil inzwischen allgemein akzeptiert ist, dass in komplexen technischen Systemen Automation und Logistik die Qualität steigen, manche Prozeduren sogar erst möglich machen. Es ist an der Zeit zu akzeptieren, dass wir in der Chirurgie auch an diesem Punkt angekommen sind, wir uns dieser Entwicklung öffnen müssen. Das erfordert auch eine Information unserer Patienten. Aber ich bin zuversichtlich, unsere Patienten sind schlau genug, das zu verstehen. Sie folgen einfach der besten Qualität.

Welche Rolle kann Deutschland und insbesondere Leipzig bei dieser Entwicklung spielen?

Prof. Gero Strauß: Es sind drei Säulen, auf denen die Wertschöpfung für die jeweiligen Unternehmen steht: Chirurgiesysteme, Logistik und Support. Dafür stehen Wirtschaftsstandorte wie Tuttlingen, allen voran die Firma Karl Storz, die heute bereits einen Marktvorsprung von etwa 5 Jahren zur Konkurrenz in Japan und USA aufgebaut haben und vom einfachen chirurgischen Instrument bis zu Raumarchitektur eine komplette Hardwarelösung liefern. Die Logistiksoftware zur Organisation der Arbeitsabläufe, zum Datenrouting und zur Einbindung von Fremdsystemen wird von Zulieferunternehmen wie der How-to-organize-GmbH, Berlin oder der SWAN GmbH, Leipzig beigesteuert.

Diese Produkte haben eine ganz andere Entwicklungs- und Vertriebsstruktur und werden doch mehr und mehr zum Teil der Gesamtlösung. Das ist unsere Chance, auch als Region, die heute wegen äußerer Faktoren seit 1945 keine eigene Medizintechnik mehr bereithält, wieder zu Herstellern von Soft-Medizintechnik zu werden. Es ist beachtenswert, dass auch die Wissenschaftsförderung des Bundes und des Freistaats Sachsen diese Entwicklung erkannt hat und konsequent fördert.

Der Support schließlich ermöglicht uns Angebote, die Anwender solcher OP-Systeme der nächsten Generation zu schulen. Das ist bereits seit über einem Jahr Realität. Dafür haben wir eigens die IRDC Academy geschaffen, in der die Operateure aus aller Welt nach Standards, die wir gemeinsam mit den verschiedenen chirurgischen Schulen und unseren Ingenieuren geschaffen haben, geschult werden. Auch hier findet sich übrigens wieder eine Analogie zum Fliegen, Airbus Ind. unterstützt uns bei der Erstellung der lebenslangen Kurssystematik.

Kontakt

IRDC GmbH

Käthe-Kollwitz-Straße 64
04109 Leipzig

+49 341 33733 160
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