Aus den Kliniken

Corona-Pandemie berechnen

21.04.2020 -

Potsdamer Forscher entwickeln einen Modellierungsansatz, der regionale Prognosen ermöglicht.

Wie lässt sich die Ausbreitung des Coronavirus darstellen und prognostizieren, wenn man, wie in ländlichen Regionen, nur über wenige Fallzahlen verfügt? Physiker, Kognitionswissenschaftler und Mathematiker des Sonderforschungsbereichs „Data Assimilation“ der Universität Potsdam haben darauf eine Antwort gefunden. Sie nutzen ein Modellierungsverfahren, dessen Besonderheit in der Kombination von Modell und Methode liegt. Es arbeitet mit nur wenigen Fallzahlen zuverlässig und eignet sich damit auch für Analysen und Vorhersagen auf regionaler Ebene, etwa von Landkreisen. Ihre Ergebnisse haben die Forscher nun auf „medRxiv“ veröffentlicht.

Außerdem ist das dynamische Modell für alle Bundesländer sowie fast alle Stadt- und Landkreise zugänglich unter: https://engbertlab.shinyapps.io/covid19-dashboard/.

Die aktuelle COVID-19-Pandemie ist – wie in allen betroffenen Ländern, so auch in Deutschland – geprägt durch einen rasanten Anstieg der Fallzahlen sowie starke regionale Unterschiede. Daher ist es wünschenswert, neben der Beobachtung bundes- und landesweiter Trends auch mathematische Modelle für die Entwicklung in kleineren Regionen zu erstellen. Aufgrund vergleichsweise geringer Fallzahlen ist dies jedoch normalerweise kaum möglich. Das Potsdamer Modell kann diese Lücke schließen, wie der Physiker Ralf Engbert, Professor für Allgemeine und Biologische Psychologie, erklärt: „Wir verwenden ein epidemiologisches Standard-Modell, allerdings in einer weniger bekannten stochastischen Version, die sich für die Beschreibung regionaler Dynamik mit vergleichsweise kleinen Fallzahlen eignet. Durch Verwendung eines Ensemble Kalman-Filters zeigen wir, dass das Modell gute prognostische Eigenschaften auf der Landkreis-Ebene besitzt.“

Im SEIR-Modell wird die Bevölkerung in vier Gruppen (SEIR) eingeteilt, wobei die wichtigste Beobachtungsgröße die infizierten Individuen (I) sind. Alle, die infiziert werden können – bei COVID-19 die gesamte Bevölkerung –, bilden die Gruppe der Suszeptiblen (S). Ist die Krankheit überstanden, sind die entsprechenden Personen immun (R = Recovered). Eine nicht zu erfassende Gruppe bilden diejenigen Individuen, die infiziert wurden, sich aber noch in der Latenzzeit befinden (E = Exposed), sodass sie keine Symptome zeigen. Diese Gruppe macht die Vorhersage und Eindämmung der Epidemie so schwierig, da infizierte Personen bei COVID-19 bereits vor dem Auftreten von Symptomen selbst infektiös werden und weitere Personen infizieren können.

Wichtige Modellparameter

Das stochastische Modell der Potsdamer Forscher bildet alle vier Gruppen in ihrer Dynamik ab. Ein besonders wichtiger Modellparameter ist die Kontaktrate, die bestimmt, wie wahrscheinlich die Infektion eines suszeptiblen Individuums beim Zusammentreffen mit einer infektiösen Person ist. Mithilfe eines sogenannten „Ensemble Kalman-Filters“ – ein mathematischer Filter, der für Probleme mit einer großen Anzahl von Variablen geeignet ist – lässt sich das Modell an die Zeitreihe der beobachteten Fallzahlen dynamisch anpassen. Wie sich zeigte, lässt sich das Modell deshalb auch bei relativ kleinen Datensätzen – etwa einzelner Land- oder Stadtkreise – verwenden.

Für die Veröffentlichung ihres Modells haben die Forscher zwei Vorhersagen generiert. Die erste entstand unter der aktuellen Situation der Kontaktsperre und zeigt für die meisten Landkreise einen langsamen Rückgang der Neuinfektionen. Für die zweite Vorhersage nahmen die Wissenschaftler an, dass der Ausgangszustand vor der Kontaktsperre wiederhergestellt und alle einschränkenden Maßnahmen aufgehoben würden. In der Folge zeigt sich für alle Landkreise ein dramatischer Anstieg der Neuinfektionen.

Beteiligt an dem interdisziplinären Forschungsteam sind neben dem Kognitionswissenschaftler Engbert und seinem Doktoranden Maximilian Rabe auch der Psychologe Prof. Dr. Reinhold Kliegl sowie der Mathematiker und Sprecher des SFB „Data Assimilation“ Prof. Dr. Sebastian Reich, der die Bedeutung des SFB betont: „Wir glauben, dass wir durch unsere Arbeit die Vorteile von Großprojekten und fachübergreifenden Forschungsschwerpunkten sichtbar machen können. Natürlich hoffen wir auch, wie viele andere Kollegen an unserer Universität einen Beitrag zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion um die optimale Bewältigung der COVD-19 Herausforderungen zu leisten.“

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