Datenturbo für das Gesundheitssystem: Schneller forschen, effizienter versorgen
22.03.2024 - Im deutschen Gesundheitssystem tut sich etwas: Elektronische Patientenakte (ePA) und E-Rezept sind die sichtbarsten, aber bei weitem nicht die einzigen Anzeichen dafür, dass endlich Bewegung in die Digitalisierung kommt - nach Jahrzehnten des Stillstands eines in großen Teilen analogen oder zumindest kaum vernetzten Systems.
Dafür wird es höchste Zeit, denn längst steht die mangelhafte Digitalisierung einer optimalen Patientenversorgung im Wege, verursacht Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe und ist zu einem massiven Standortnachteil für akademische und industrielle Forschung geworden.
Bessere Versorgungsqualität, höhere Kosteneffizienz, mehr Produktivität bei gleichzeitig geringerer Leistungsinanspruchnahme und über 40 Milliarden Euro Einsparpotenzial - all das stellte eine Studie von McKinsey bei konsequenter Digitalisierung und Datennutzung dem deutschen Gesundheitssystem bereits 2022 in Aussicht.1 Realisiert werden konnte davon bis heute nur ein Bruchteil.
Datenturbo für die klinische Forschung: Jahre statt Jahrzehnte forschen?
Papierlos Daten schneller verarbeiten, Doppeluntersuchungen und -therapien vermeiden und effizienter versorgen, stehen bei ePA und E-Rezept im Fokus. Dabei geht es in der aktuellen Debatte um das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) oder das Digital-Gesetz (DigiG) nicht allein um die Versorgung von heute, sondern vielmehr um die Versorgung und die dazu notwendige Forschung von morgen. Denn Gesundheitsdaten, wie sie etwa im Rahmen der ePA erfasst werden, bieten enorme Chancen für die akademische und industrielle Forschung, die in Deutschland seit Jahren ungenutzt bleiben.
Das könnte sich nun ändern und unter anderem der klinischen Forschung in Deutschland einen Schub geben. Denn der Zugang zu Daten spielt dort eine zentrale Rolle und wird zunehmend zum Standortfaktor. Neben anderen Bereichen könnten davon insbesondere Menschen mit Krebs oder seltenen Erkrankungen profitieren. Denn die Möglichkeiten, auf herkömmlichen Wegen an breite, valide Evidenz zu kommen, um etwa neuartige Arzneimittel zu entwickeln oder prognostisch oder therapeutisch relevante Biomarker für Diagnose oder Patientenstratifizierung zu identifizieren, sind begrenzt.
Je kleiner das Patientenkollektiv ist - etwa bei einer seltenen Erkrankung oder einer seltenen genetischen Alteration bei Krebs – desto dünner ist in der Regel die Datengrundlage, die z.B. über klinische Studien gesammelt werden kann. Ein Beispiel: Die seltenen NTRK-Genfusionen kommen bei nur 0,3 - 0,5 % aller soliden Tumoren vor, sind aber therapeutisch richtungsweisend, da sie heute zielgerichtet therapiert werden können.2 Die Prognose der Patient*innen verbessert sich dadurch erheblich. “Große randomisierte Studien sind in diesem Kontext allerdings fast unmöglich, denn entsprechende Patient*innen mit einer bestimmten Tumorentität sind in ausreichender Zahl kaum zu finden und zu rekrutieren. Bei Darmkrebs würde der Abschluss einer randomisierten klinischen Studie dort etwa 55 Jahre dauern, beim Pankreaskarzinom sogar etwa 70 Jahre - und damit natürlich viel zu lang”, so Dr. Marlene Thomas, Head of International Business für Foundation Medicine bei Roche.3
Evidenzunsicherheiten reduzieren, Datennutzung maximieren?
Einarmige Basket-Studien, die Patient*innen jedweder Tumorentität einschlossen, konnten diese Zeit erheblich verkürzen, sodass Betroffenen bereits seit einigen Jahren wirksame Therapien zur Verfügung stehen - und nicht erst im nächsten Jahrhundert. Die damit einhergehenden Evidenzunsicherheiten - schließlich gibt es keinen Kontrollarm - können Gesundheitsdaten deutlich verringern. In diesem Beispiel konnte aus der US-amerikanischen Flatiron-Datenbank, die quasi 3,5 Millionen elektronische Patientenakten umfasst, eine Kontrollgruppe generiert werden, die es erlaubt, die Wirksamkeit neuer Therapien besser abzuschätzen. Bedingung dafür: Solche Daten sind digital, vernetzt, interoperabel und in entsprechender Qualität verfügbar. Voraussetzungen, an denen wir in Deutschland bislang scheitern.
“Wir haben auf Basis solcher Real World Daten bereits Zulassungserweiterungen für kleine Patientenpopulationen gesehen. Das zeigt: Diese Daten können ‘klassische’ klinische Evidenz sinnvoll ergänzen und einen spürbaren Nutzen für Forschung und Versorgung haben”, erläuterte Dr. Thomas im Rahmen einer Paneldiskussion beim 10. SpiFa-Fachärztetag in Berlin. In Europa, speziell in Deutschland, könnten diese Daten auch in der frühen Nutzenbewertung hilfreich sein, um den Zusatznutzen von Arzneimitteln für besondere Therapiesituationen verlässlicher bewerten zu können. Dazu müssten sie in der Beurteilung allerdings auch herangezogen werden. Bislang sind, wenn keine Evidenz aus randomisierten, kontrollierten klinischen Studien verfügbar ist, solche Daten zwar einzureichen, berücksichtigt werden sie aber in den seltensten Fällen. In der Konsequenz heißt es dann allzu oft: Kein, geringer oder nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen - mit potenziell negativen Auswirkungen auf die Versorgung und Forschung.
Der Blick auf den Status quo ist also ernüchternd: Die wenigen für die Forschung verfügbaren Daten werden nicht ausreichend genutzt. Daten, die dagegen genutzt werden könnten, verstauben ohne Zugriffsmöglichkeiten, fragmentiert in unterschiedlichsten Datensilos. Das GDNG und das DigiG könnten das zukünftig ändern - praxisorientierte und konsequente Umsetzung von der Grundlagen- über die klinische Forschung bis hin zu Nutzenbewertung vorausgesetzt. Mit Blick auf die rasante medizinische Entwicklung wird es dafür allerdings höchste Zeit. Man denke nur an Zell- und Gentherapien, Krebsvakzine oder die Präzisionsmedizin - dort wird es ohne effiziente Nutzung von Gesundheitsdaten zukünftig schwer, Therapien zu entwickeln und in die Versorgung zu bringen. Leidtragend ist das gesamte System: Forschende, Patientinnen, Kostenträger und industrielle Gesundheitswirtschaft gleichermaßen.
Referenzen
[1] McKinsey, Digitalisierung im Gesundheitswesen: die 42-Milliarden-Euro-Chance für Deutschland, Mai 2022.
[2] Stenzinger A et al. Pathologe. 2021; 42(1): 103–115.
[3] Lozano-Ortega G et al. Posterpräsentation ISPOR 2019.