Eine „Wetterstation“ für Epilepsie
08.01.2021 - Ein internationales Forschungsteam des Universitätsspitals und der Universität Bern, der Universität Genf sowie der University of California, San Francisco und der Brown University, Providence hat eine neue Methode entwickelt, die es erlaubt epileptische Anfälle frühzeitig voraussagen zu können.
In der in The Lancet Neurology publizierten Forschungsarbeit stellt das Team seine Arbeit vor. Ein im Hirn implantiertes Gerät zeichnet die Hirnaktivitäten während mindestens sechs Monaten auf. Die Auswertung der Aufzeichnungen erlaubt eine zuverlässige, mehrtägige Vorhersage eines möglichen nächsten Anfalls.
Ein epileptisches Gehirn kann abrupt von einem physiologischen Zustand in einen pathologischen Zustand übergehen. Dieser ist durch eine Störung der neuronalen Aktivitä gekennzeichnet, die unter anderem die für einen epileptischen Anfall typischen Krämpfe auslösen kann. Wie und warum das Gehirn von einem Zustand in den anderen wechselt, ist noch immer unklar. Daher war das Auftreten eines Anfalls nur sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich vorherzusagen. „Spezialisten auf der ganzen Welt versuchen seit über 50 Jahren, Anfälle einige Minuten im Voraus vorherzusagen, allerdings mit mäßigem Erfolg“, erklärt Timothée Proix, Forscher in der Abteilung für neurowissenschaftliche Grundlagenforschung der Medizinischen Fakultät der UNIGE. Anfällen scheinen keine offensichtlichen Warnzeichen vorauszugehen, die eine sichere Prognose erlauben würden. Die Häufigkeit der Anfälle variiert, je nach Individuum, von einmal jährlich bis einmal täglich.
Vielfältige Einschränkungen
„Das ist ein großes Problem für die Patienten“, bestätigt Maxime Baud, Neurologe im Inselspital und an der Universität Bern. „Diese Unvorhersehbarkeit ist mit einer permanenten Bedrohung verbunden, die die Patienten zwingt, täglich Medikamente einzunehmen. Und in vielen Fällen hindert diese sie daran, bestimmte Sportarten auszuüben. Das Leben mit dieser Bedrohung kann auch ihre geistige Gesundheit beeinträchtigen.“ Die vorhandenen Therapien sind häufig schwer erträglich: Sie basieren auf Medikamenten zur Reduzierung der neuronalen Erregbarkeit mit einer Vielzahl an möglichen Nebenwirkungen und beinhalten manchmal neurochirurgische Eingriffe, um den epileptischen Fokus, d. h. den Ausgangspunkt der Gehirnanfälle, zu entfernen. Zudem spricht ein Viertel der Patienten nicht auf diese Therapien an, sie müssen daher lernen, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen.
Ist eine „Wettervorhersage“ möglich?
Die epileptische Aktivität kann anhand der elektrischen Aktivitätsdaten im Gehirn gemessen werden, die mittels Elektroenzephalographie aufgezeichnet werden. Diese Daten können verwendet werden, um interiktale Entladungen zu identifizieren – flüchtige Entladungen, die zwischen den Anfällen auftreten, diese jedoch nicht unmittelbar auslösen. „Unseren klinischen Beobachtungen zufolge wiederholen sich epileptische Anfälle in Clustern und Zyklen. Um festzustellen, ob die interiktalen Entladungen diese Zyklen erklären können und um das Auftreten eines Anfalls vorherzusagen, haben wir die Daten einer genaueren Analyse unterzogen“, so Maxime Baud weiter.
Ausgeklügelte statistische Analyse
Zu diesem Zweck arbeitet Baud mit Vikram Rao, Neurologe an der UCSF, zusammen, um Daten zur neuronalen Aktivität zu erhalten, die über mehrere Jahre mit Hilfe von langfristig im Gehirn von Epilepsiepatienten implantierten Geräten erfasst wurden. Nach der Bestätigung, dass tatsächlich Zyklen mit zerebraler epileptischer Aktivität vorhanden sind, richteten die Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit auf die statistische Analyse. Dank dieser Methode konnte ein Phänomen nachgewiesen werden, das als „proiktaler Zustand“ bekannt ist, in dem eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein Anfall auftritt. „Genau wie bei meteorologischen Störungen gibt es verschiedene Zeitphasen in der epileptischen Gehirnaktivität“, erläutert Maxime Baud. „Das Wetter wird vom Verlauf der Jahreszeiten und vom Wechsel zwischen Tag und Nacht beeinflusst. Wenn sich eine Wetterfront nähert, steigt die Wahrscheinlichkeit im Mittel an, dass es einige Tage lang regnet und ist somit besser vorhersagbar. Diese drei Phasen der zyklischen Regulierung gibt es auch bei Epilepsie.“
Den korrekten Zeitrahmen bestimmen
Die elektrische Aktivität im Gehirn ist eine Reflexion der Zellaktivität seiner Neuronen, genauer gesagt ihrer Aktionspotenziale. Das sind elektrische Signale, die sich über das neuronale Netz verbreiten, um Informationen weiterzuleiten. Aktionspotenziale sind den Neurowissenschaftlern gut bekannt und ihre Auftretenswahrscheinlichkeit kann mit Hilfe von mathematischen Gesetzen modelliert werden. „Wir haben diese mathematischen Modelle den epileptischen Entladungen angepasst, um herauszufinden, ob sie einen Anfall ankündigen oder hemmen“, erläutert Timothée Proix. Um die Zuverlässigkeit der Prognose zu erhöhen, waren Aufzeichnungen der Gehirnaktivität über sehr lange Zeiträume erforderlich. Mit dieser Methode konnten bei der Mehrzahl der Patienten Fronten mit hoher Anfallswahrscheinlichkeit über mehrere Tage festgestellt werden, die bei einigen von ihnen die Möglichkeit bieten, Anfälle mehrere Tage im Voraus vorherzusagen. Anhand von Daten zur Gehirnaktivität, die über Zeiträume von mindestens sechs Monaten erfasst wurden, war die Anfallsprognose bei zwei Dritteln der Patienten aussagekräftig.
Ausblick
Der Analyseansatz erlaubt eine Übertragung der Daten zur Hirnaktivität in Echtzeit auf einen Server oder direkt auf einen Mikroprozessor. Dazu kann ein Gerät eingesetzt werden, das so klein ist, dass es direkt in die Hirnschale implantiert werden kann. Mit der Unterstützung des „Wyss Centers“ auf dem Campus Biotech in Genf werden die Forscher nun ein minimalinvasives, Instrument entwickeln, das Patientinnen und Patienten beim Umgang mit ihrer Epilepsie effektiver unterstützen wird.