Kritik an europäischer Medizinprodukteverordnung
19.12.2022
- Die europäische Verordnung für Medizinprodukte, die Medical Device Regulation (MDR), muss aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) dringend in der praktischen Umsetzung verbessert werden.
Die aktuellen Regelungen führen dazu, dass das System von Prüfung und Zulassung überlastet ist und Medizinprodukte aufgrund aufwändiger Re-Zertifizierungsprozesse vom Markt genommen werden könnten, kritisiert die AWMF. Außerdem würden Hürden für die Entwicklung neuer Medizinprodukte die Innovationskraft des Wissenschaftsstandorts Deutschland bedrohen. Die AWMF fordert deshalb gestaffelte Zulassungsregelungen, Förderprogramme für Registerdaten, sowie mehr Investitionen und risikoadaptierte regulatorische Rahmenbedingungen für klinische Studien.
Ziel der MDR ist es, die Patientensicherheit durch höhere Anforderungen bei der Marktzulassung von Medizinprodukten wie etwa Herzschrittmachern, Implantaten oder Prothesen zu erhöhen. „Dieses Ziel unterstützen wir vorbehaltlos“, erläutert Professor Dr. med. Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF. „Zugleich stellen die derzeitigen Regelungen der MDR große Hürden für die Zulassung von Medizinprodukten dar, was aktuell zu Versorgungslücken und langfristig zur Schwächung der Wissenschaft in Deutschland führen kann. Als wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften wollen wir die Umsetzung der MDR praktikabel halten“, kritisiert der AWMF-Präsident.
Die MDR sieht beispielsweise vor, dass bereits bewährte Medizinprodukte eine komplette Re-Zertifizierung durchlaufen müssen. Zuständig dafür sind sogenannte Benannte Stellen. „Die Re-Zertifizierung betrifft circa 24.000 Produkte und führt damit zu einer Überlastung der Benannten Stellen sowie zu erheblichem Aufwand für die Medizinproduktehersteller“, betont Professor Dr. med. Ernst Klar, Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission Bewertung von Medizinprodukten der AWMF. „Diese haben bereits Produkte vom Markt genommen, von denen einige jedoch für bestimmte Operationen notwendig sind. Hier drohen Versorgungslücken.“ Um potenzielle Ausfälle von Medizinprodukten mit resultierenden Versorgungslücken aufzudecken und belastbare Daten zu liefern, hat die AWMF ein Melderegister eingeführt.
Häufig fehlt es auch an klinischen Daten, die für die Re-Zertifizierung von bereits verfügbaren Medizinprodukten nötig sind. Die AWMF schlägt deshalb vor, verstärkt vorliegende Registerdaten für eine niederschwellige Re-Zertifizierung zu nutzen. „Anhand von Registerdaten lässt sich häufig problemlos aufzeigen, dass es in der Vergangenheit keine Sicherheitsprobleme mit dem Produkt gab“, betont Klar. Außerdem böten die Registerdaten die Möglichkeit, zusätzliche klinische Daten durch ein Rolling Review im Sinne einer Zulassung unter Auflagen zu generieren. „Aufgrund des großen Potentials, das in Registerdaten steckt, muss deren Finanzierung strukturiert aufgesetzt werden. Hierzu braucht es entsprechende Förderprogramme“, fordert der Experte.
Die AWMF sieht in den derzeitigen Vorgaben der MDR nicht zuletzt auch die Innovationskraft der Wissenschaft in Deutschland gefährdet. „Klinische Studien haben inzwischen ein erheblich größeres Gewicht für die Zertifizierung von Medizinprodukten gewonnen. Gleichzeitig sind auch die Anforderungen an klinische Studien gestiegen“, erklärt Professor Dr. Andreas Markewitz, Stellvertretender Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission Bewertung von Medizinprodukten der AWMF. „Wir fordern deshalb, die finanziellen Rahmenbedingungen für klinische Studien aus öffentlichen Mitteln zu verbessern, damit die zusätzlichen Aufwände leistbar sind und die Abhängigkeit von Drittmitteln reduziert wird“, so der Mediziner weiter.
Eine weitere Gefahr für die Innovationskraft der Wissenschaft am Standort Deutschland besteht aus Sicht der AWMF in den hohen Kosten der Zulassungsprozesse. So ist eine Re-Zertifizierung eines auf dem Markt befindlichen Bestandsproduktes in Europa unter MDR-Bedingungen deutlich teurer als in den USA oder Kanada. Auch fehlen den europäischen Medizinprodukteherstellern, bei denen es sich in mehr als 90 Prozent der Fälle um kleine oder mittlere Unternehmen handelt, häufig die finanziellen Mittel, um Erstzulassungen durchführen zu lassen. „Dies kann dazu führen, dass innovative Forschende vergeblich Unternehmen suchen, die ihre Ideen in die praktische Umsetzung begleiten“, erläutert Markewitz. Es sei zu erwarten, dass Zulassungsstudien für innovative Produkte zukünftig primär außerhalb Europas durchgeführt werden und diese Produkte erst spät für die Krankenversorgung in Europa zur Verfügung stehen. „Die Regularien für Zulassungsstudien müssen auf ein leistbares Maß reduziert werden – etwa durch nach Unternehmensgröße gestaffelte Gebührenordnungen“, betont Markewitz.