Medizinische Experimente im All
12.11.2021 - Der deutsche Astronaut Dr. Matthias Maurer ist mit an Bord bei der Mission „Cosmic Kiss“, die mit dem Weltraumflug zur Internationalen Raumstation ISS startete. Verschiedene Charité-Projekte begleiten die Mission zur ISS.
Unter den rund 100 geplanten Experimenten sind vier Projekte dabei, die Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin begleiten. Sie beschäftigen sich mit der Überwachung der Körpertemperatur und der Muskeleigenschaften im All, einem verbesserten Training gegen Muskelabbau sowie veränderten Kontakten zwischen Zellen unter Schwerelosigkeit.
Die einzelnen Experimente werden durch das nationale Raumfahrtprogramm der deutschen Raumfahrtagentur im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Zusammenarbeit mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA koordiniert. Das DLR fördert die Projekte der Charité mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) von insgesamt über 1,5 Mio. Euro.
Ready for liftoff! Am Donnerstagmorgen mitteleuropäischer Zeit hob die SpaceX-Trägerrakete vom Kennedy Space Center ab, dem Weltraumbahnhof der National Aeronautics and Space Administration (NASA) in Florida, USA. Die Mission „Cosmic Kiss“ bringt die vierköpfige Besatzung an Bord einer Crew-Dragon-Raumkapsel zur Internationalen Raumstation ISS, wo sie bis April 2022 bleiben soll. Auch der ESA-Astronaut Dr. Matthias Maurer ist – als 12. Deutscher im All und 4. Deutscher auf der ISS – Teil der Crew, neben drei US-amerikanischen Astronauten der NASA. Für ihn ist es der erste Raumflug, seit April 2020 bereitet er sich auf die Mission vor.
Der 51-jährige Materialwissenschaftler Dr. Maurer hat eine Reihe von Experimenten für den sechsmonatigen Aufenthalt eingeplant. Die deutsche Raumfahrtagentur im DLR ist für die Auswahl und Koordination der Experimente aus Deutschland verantwortlich, die bereits viele Stationen für die Erprobung durchlaufen haben – etwa auf Parabelflügen. Das beim DLR ansässige Columbus-Kontrollzentrum der ESA ist für die Planung und Durchführung der Experimente zuständig, die im europäischen Columbus-Modul auf der ISS erfolgen sollen. Unter den über 100 Experimenten, die Dr. Maurer dort durchführen wird, sind 35 mit deutscher Beteiligung. Sie reichen von Grundlagenforschung bis hin zu anwendungsorientierter Forschung in lebens-, natur- und materialwissenschaftlichen Bereichen. Mit an Bord sind auch vier Projekte, an deren Entwicklung die Charité beteiligt ist.
„Wegen der vorherrschenden Schwerelosigkeit bietet uns die ISS einmalige Bedingungen. Hier lassen sich biologische und physikalische Vorgänge weitgehend ohne Störeffekte untersuchen, wie es in keinem Labor auf der Erde möglich wäre. Wir freuen uns über diese Gelegenheit und sind sehr gespannt, wie sich die Projekte bewähren“, sagt Prof. Dr. Hanns-Christian Gunga, stellvertretender Direktor des Instituts für Physiologie der Charité und Sprecher des dort angesiedelten Zentrums für Weltraummedizin und Extreme Umwelten Berlin (ZWMB).
Die Projekte mit Beteiligung der Charité im Einzelnen:
Thermo-Mini
Die Physiologie des menschlichen Körpers ist an die Schwerkraft auf der Erde angepasst, so auch die Regulation der Körpertemperatur. Das Aufrechterhalten einer konstanten Körperkerntemperatur ist in der Schwerelosigkeit gestört, es kommt zu einem dauerhaften Temperaturanstieg – dem Weltraumfieber. Damit Astronauten wie Dr. Maurer beim Sport oder bei Außenbordeinsätzen nicht überhitzen und ihre Gesundheit gefährden, wird im Projekt Thermo-Mini die Körperkerntemperatur und deren Tagesrhythmik durch einen miniaturisierten Thermosensor an einem Stirnband aufgezeichnet. Dieser Wärmeflusssensor ermöglicht eine zuverlässige, schnelle und schmerzfreie Temperaturmessung kontinuierlich über einen längeren Zeitraum hinweg.
Die so gewonnenen Daten sollen klären, inwiefern der Mini-Thermosensor für einen Langzeiteinsatz im Weltall geeignet ist. Zukünftig könnten diese Messungen in die Standardüberwachung der Gesundheit von Astronauten aufgenommen werden. Aber auch in anderen extremen Arbeitssituationen – etwa in Bergwerken oder bei Feuerwehreinsätzen – könnten sie zum Einsatz kommen.
Myotones
Für die Besatzung der ISS ist ein geeignetes Muskelaufbautraining in der Schwerelosigkeit unabdingbar, um einem Abbau der Muskulatur und einer eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit vorzubeugen. Um Anzeichen eines Muskelabbaus nachvollziehen und entgegenwirken zu können, werden im Projekt Myotones die wichtigsten biophysikalischen Eigenschaften des Muskels dokumentiert. Während der gesamten Mission sowie davor und danach werden der Muskeltonus – also die Ruhespannung – sowie die Steifigkeit und Elastizität der ruhenden Muskulatur beim Astronauten kontinuierlich überwacht.
Für die Messungen verwendet der Astronaut das handliche Messgerät MyotonPRO, das etwa die Größe eines Smartphones hat. Mit dessen Hilfe können auf etwa zehn Hautmesspunkten am ganzen Körper die biophysikalischen Messparameter der darunterliegenden Strukturen wie Muskeln, Sehnen und Faszien – durch kurzes Aufsetzen eines kleinen Messfühlers – in Echtzeit ermittelt und gespeichert werden.
EasyMotion
Um das Muskeltraining während der Mission zu unterstützen, trägt der Astronaut für das Projekt EasyMotion während des Trainings auf der ISS einen speziell für die Raumfahrt qualifizierten Trainingsanzug. Durch die integrierten flachen Trocken-Elektroden wird die Muskulatur – durch Elektro-Myo-Stimulation (EMS) mit kurzen niederfrequenten Impulsen – zusätzlich zu seinem Routinetraining unwillkürlich stimuliert. Auf diese Weise soll sich der Trainingserfolg in der Vorbereitung, während des Raumflugs sowie danach optimieren und die Trainingszeiten von derzeit etwa 2,5 Stunden pro Tag verkürzen lassen.
Wie die Muskeleigenschaften werden auch die Auswirkungen der EMS auf die Muskulatur im Zusammenhang mit dem gleichzeitig laufenden Myotones-Experiment alle 60 Tage gemessen. Die gesammelten Daten werden zeitnah zu einer Bodenstation der ESA in Toulouse, Frankreich, übermittelt und – zusammen mit dem Europäischen Astronautenzentrum (EAC) der ESA in Köln – durch das Team am ZWMB der Charité ausgewertet.
Cellbox-3
Für die Funktionsfähigkeit der Muskulatur ist der Zellkontakt zwischen Nerven- und Muskelzelle an der neuromuskulären Synapse essenziell. Das Projekt NEMUCO/ Cellbox-3 untersucht die strukturellen und funktionellen Veränderungen dieser Zellkontakte. Dabei wird deren Neubildung in Zellkultur erstmalig unter Schwerelosigkeit erforscht.
In einem speziellen vollautomatischen Mikrolabor werden dafür dreidimensionale Zellkulturen von isolierten Nervenzellen zusammen mit jungen Muskelzellen gezüchtet und für mehrere Tage auf der ISS unter kontrollierten Kulturbedingungen gehalten. Die Zellen werden noch in Schwerelosigkeit fixiert und die Proben nach dem Rücktransport zur Erde an der Charité eingehend ausgewertet. Neben mikroskopischen Untersuchungen werden auch Sequenzierungen der RNA und Analysen des Proteoms der Zellen erfolgen. Die Erkenntnisse aus diesen Experimenten sollen helfen, die molekularen Abläufe bei der Versorgung der Muskeln durch die Nervenzellen besser zu verstehen.
Wieder zurück auf der Erde sollen die Projekte der Charité unter anderem dabei helfen, Rehabilitations- und Trainingsprogramme in Zukunft zu optimieren. „Muskeltonus und -steifigkeit sind wichtige Indikatoren der Muskelgesundheit und nicht zuletzt der körperlichen Fitness und physiologischen Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers – ob im Weltall oder auf der Erde“, sagt Prof. Dr. Dieter Blottner vom Institut für Integrative Neuroanatomie und vom ZWMB der Charité. „Die nichtinvasive und leicht zu handhabende digitale Technologie, die wir für unser Projekt Myotones einsetzen, könnte neben dem Einsatz in der Sportmedizin und Physiotherapie zukünftig Anwendung finden – etwa bei der klinischen Untersuchung von Personen mit Bewegungsstörungen, Skelettmuskelerkrankungen oder -verletzungen. Auf diese Weise könnte die digitale Technologie im klinischen Alltag eine objektive Begutachtung des aktuellen Gesundheitsstatus von Patientinnen und Patienten sowie eine Kontrolle ihres Therapieverlaufs gewährleisten.“
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