Mehr Transparenz gefordert
07.06.2024 - EU-Wahl 2024: "Wir müssen aufpassen, dass Medizin und Wissenschaft nicht politisiert oder instrumentalisiert werden." sagt Prof. Harald Renz.
Anlässlich der EU-Wahl 2024 erklärt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL), Prof. Dr. Harald Renz, warum Brüssel in Zukunft auf mehr Transparenz setzen muss - und weswegen Medizin und Wissenschaft das Thema "Dual Use" ganz oben auf die Agenda setzen sollten. Prof. Dr. Harald Renz ist Direktor sowie Professor am Institut für Labormedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik der Philipps Universität Marburg. Die Fragen der DGKL stellten Marita Vollborn und Vlad Georgescu.
Herr Prof. Renz, gehen Sie am 9. Juni zur Wahl?
Renz: Selbstverständlich, das ist demokratische Ehrensache!
Wählen zu gehen, ist zweifelsohne wichtig, nur: Warum sollte man das als Labormediziner aus Deutschland tun?
Renz: Neben vielen anderen Gründen müssen wir realisieren, dass auch die Labormedizin zunehmend EU-weit geregelt wird. Lösungen auf nationaler Ebene nehmen ab. Auch deswegen ist EU für uns wichtig.
Trotzdem kann man den Eindruck gewinnen, die EU kümmere sich im Bereich der Gesundheitspolitik eher marginal um die Belange der Branche. Die Zahlen jedenfalls sprechen für sich: Ende 2020 hat die Europäische Kommission beschlossen, die Gesundheitsunion aufzubauen. Finanziert wird das Vorhaben durch das Programm EU4Health. Dafür stehen zwischen 2021 und 2027 gerade mal 5,3 Milliarden Euro zur Verfügung. Wie kommt Ihnen diese Summe, verglichen mit anderen Ausgaben der EU, vor?
Renz: Ehrlich gesagt, ist selbst für mich schwer in Erfahrung zu bringen, was die EU alles fördert, plant und unterstützt. Wir brauchen eine bessere Transparenz und Übersicht über jene Themen, welche die EU abdeckt. Bei den Programmen, die EU-weit auferlegt werden, verhält es sich ähnlich.
Warum können wir auf Transparenz nicht verzichten?
Renz: Ganz einfach: Wir benötigen mehr Transparenz um zu erkennen, wie diese Programme konkret genutzt werden können, um bestimmte Projekte in der Labormedizin auch hierzulande voranzubringen.
Was den meisten Politikern gar nicht bewusst ist, dürfte die Systemrelevanz der Labormedizin sein. Was passiert konkret, wenn - rein theoretisch - EU weit alle Medizinlabore für eine ganze Woche ausfallen würden?
Renz: Stellen Sie die nächste Frage, denn daran möchte ich gar nicht denken! Eine Woche europaweit keine in-vitro-Diagnostik, unvorstellbar! Das System der Gesundheitsversorgung, auch in der Notfallmedizin, würde zusammenbrechen.
Nun ist das sicherlich lediglich ein Worst-Case-Szenario. Doch welche Forderung hätten Sie an die Adresse der EU-Kommission, um den Blackout im Gesundheitswesen zu verhindern?
Renz: Um einen Blackout zu verhindern, braucht es Vorsorge. Das haben wir in der Pandemie gesehen. Hier muss natürlich kritisch diskutiert werden, bis zu welchem Grad Vorsorge betrieben werden kann und muss. Aber allein schon diese Diskussion wäre extrem hilfreich, denn auch hier werden deutschlandweite Insellösungen nicht weiterhelfen.
Problematisch dürfte sein, dass die EU-Kommission derzeit viel mit sich selbst zu tun hat. Die EU-Generalanwältin Laura Kövesi ermittelt gegen Ursula von der Leyen, wobei auch hier natürlich zunächst die Unschuldsvermutung gilt. Trotzdem: Hat die Kommissionschefin durch die SMS-Affäre nicht die gesamte Gesundheitsbranche in eine peinliche Lage gebracht?
Renz: Was diese SMS-Affäre anbelangt, muss zunächst einmal die Faktenlage geklärt werden. Ich möchte mich hier mit einer Bewertung vorerst zurückhalten, bis auch hier mehr Transparenz und Klarheit existiert.
Schwärzungen von Dokumenten oder verschwundene SMS dienen nicht dem Interesse der Pharmahersteller, sondern in erster Linie dem Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Was sollte die EU nach der Wahl in diesem Bereich besser machen?
Renz: Eine Art Verhaltenscodex gibt es ja schon für Parlamentarier, deren Mitarbeiter und für EU-Beamte. Jedoch – und das ist genauso der Fall auf Ebene des Deutschen Bundestages - muss das Ganze transparent gehandhabt werden.
Das klingt sehr theoretisch….
Renz: …was es nicht ist. Denn für die Bevölkerung müssen die Entscheidungen und Vorgänge völlig durchsichtig sein. Brüssel ist für die meisten Menschen „weit weg“. Da kann es schon mal sein, dass die Prozesse in Brüssel „zu Hause“ gar nicht in der Öffentlichkeit ankommen.
Was von der Öffentlichkeit als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde und wirklich bestens funktionierte, war die Labordiagnostik während der Pandemie. Wie haben Sie das als Branche geschafft, neben Millionen von Coronatests auch noch die "normale" Labordiagnostik zu stemmen?
Renz: Die Pandemie hat in der Labormedizin zu einer drastischen Umorientierung geführt. Die Vorgänge waren komplex. Natürlich stand zunächst einmal die Akutversorgung der Erkrankten mit Labortests, einschließlich Corona-Tests, im Mittelpunkt. Dann haben wir beispielsweise in den Krankenhäusern gesehen, dass bestimmte Patientengruppen weniger zu Untersuchungen kamen. Dadurch fiel in diesen Bereichen weniger Diagnostik an. Zudem mussten wir auch mit den eigenen Personalausfällen kämpfen.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Renz: Dass wir innerhalb der Labormedizin als medizinische Fachdisziplin äußerst versatil und agil sind. Wir sind außerordentlich beweglich aufgestellt und können uns in kürzester Zeit auf neue Herausforderungen einstellen. Das erfüllt mich mit enormen Stolz für unsere Fachgruppe!
Müsste dann nicht ein Vertreter oder eine Vertreterin der Labormedizin in Brüssel sitzen?
Renz: Wir brauchen in Brüssel sicherlich noch ein besseres Lobbying. Hier müssten wir auch als Deutsche Fachgesellschaft - das merke ich ganz selbstkritisch an - uns noch besser aufstellen. Natürlich gemeinsam mit der Europäischen Fachgesellschaft.
Derzeit stehen ja wichtige Vorhaben auf der Agenda. Der europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS) beispielsweise. Wie tangiert der die Labormedizin?
Renz: Zu den wichtigsten Gesundheitsdaten zählen die Labordaten. Diese verfügbar zu machen, ist eine Herkulesaufgabe. Das sehen wir, wenn es darum geht, Labordaten aus einzelnen Forschungsprojekten standortübergreifend innerhalb von Deutschland auf einen Nenner zu bringen. Dieser Aufgabe sollten wir uns stellen.
Die EU wäre aber nicht die EU, wenn sinnvolle Vorhaben nicht durch eine enorme Bürokratie flankiert würden. Haben Labormediziner im Alltag die Zeit, um alle Vorschriften lesen zu können?
Renz: Die einzelnen Labormediziner sind damit sicherlich überfordert. Und haben auch gar nicht die Zeit oder die Ressourcen dafür. Woher soll man also all diese Informationen beziehen?
Ihre Frage ist gut. Also stellen wir sie: Woher sollen Labormediziner die nötigen Informationen beziehen? Der Web-Auftritt der EU bereitet selbst uns als investigative Journalisten gewisse Schwierigkeiten. Schnell findet man dort so gut wie nichts.
Renz: Ich könnte mir vorstellen, dass wir hier über die DGKL ein Informationsportal mittelfristig aufbauen könnten.
Wenn wir uns heute die politische Landschaft in Deutschland und in der EU ansehen, erkennen wir vor allem eine Spaltung. Gibt es auch innerhalb der Labormedizin Fissuren?
Renz: Bisher nehme ich keine Spaltung in der Labormedizin wahr. Aber natürlich gibt es auch innerhalb der Labormedizin bestimmte Gruppen, die bestimmte Interessen verfolgen. Das ist legitim. Wichtig dabei ist, dass wir einen guten Interessensausgleich hinbekommen. Beispielsweise zwischen Laborärzten, die mehr im Krankenhaus sind und jenen, die mehr in der Praxis tätig sind. Ein weiterer Aspekt: Wir müssen auch den kleineren, labormedizinischen Einheiten noch „Luft zum Atmen“ lassen, und auf eine starke Regionalisierung setzen.
Wir gehören, ebenso wie Sie, einer Generation an, die den Kalten Krieg bewusst miterlebte. Wir selbst auf der einen Seite des damaligen Eisernen Vorhangs, Sie auf der anderen. Heute haben wir das Gefühl, das man damals - trotz aller Bedrohungen und Kriege - zumindest auf wissenschaftlicher und medizinischer Ebene stets einen respektvollen Dialog führte, und zwar jenseits von Ideologien und Grenzen. Was ist heute schiefgelaufen?
Renz: Wir müssen aufpassen, dass Medizin und Wissenschaft nicht politisiert oder instrumentalisiert werden. Natürlich ist es bedauerlich, dass der internationale Austausch mit bestimmten Ländern nicht mehr so funktioniert, wie wir das noch vor ganz kurzer Zeit kannten. Ich denke dabei beispielsweise an China und Russland, aus naheliegenden Gründen.
Worauf müssen Mediziner heute im Umgang mit diesen Staaten achten?
Renz: Ich möchte auf eine wichtige Thematik hinweisen: Der „ Dual-Use“ von Forschungsergebnissen. Als Wissenschaftler muss man selbstkritisch die Frage stellen, ob die eigenen Forschungsergebnisse gegebenenfalls von anderen zweckentfremdet und missbraucht werden könnten – etwa im Sinne einer militärischen Anwendung. Das ist für Deutschland eine relativ neue Diskussion, die vor allen Dingen an den Universitäten und in den Forschungseinrichtungen geführt wird. Das halte ich für sehr wichtig.
Die Polarisierung der Gesellschaft hat demnach auch die akademischen Bereiche erfasst?
Renz: Ich würde das nicht als Polarisierung bezeichnen. Es ist im Grunde genommen die selbstbewusste Antwort auf das, was um uns herum in der Welt passiert.
Wobei wir neulich darüber berichten mussten, dass Anfeindungen gegen Wissenschaftler zunehmen. Wie wollen Sie Menschen mit Argumenten überzeugen, wenn diese gar nicht gewillt sind, zu reflektieren?
Renz: Anfeindungen aus ethischen, religiösen und anderen Gründen sind strikt abzulehnen. Wir sind eine offene Gesellschaft, die auf demokratische Grundwerte baut. Grade haben wir 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Hier heißt es auch für Labormediziner: Haltung zeigen!
Zum Schluss noch die Bitte um eine ganz unpolitische Europa-Prognose: Wer gewinnt die Fußball EM 2024?
Renz: Deutschland selbstverständlich!
Kontakt
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