Aus den Kliniken

Neue Migräne-Leitlinie der DGN und DMKG

07.11.2022 - Die vollständig überarbeitete S1-Leitlinie zur „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) umfasst eine breite Palette an Optionen für die akute und prophylaktische Behandlung dieses weitverbreiteten Leidens.

Die Leitlinie geht auf die medikamentöse wie auf die nicht medikamentöse Therapie und auf psychotherapeutische Verfahren ein. Besonders aktuell sind die Empfehlungen zur Dauer einer Migräneprophylaxe, zu den neuen Medikamentengruppen der Ditane und Gepante, den monoklonalen Antikörpern und zur nicht invasiven Neurostimulation. Auch Migräne-Apps werden empfohlen.

Die aktualisierte S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ [1] steht kurz vor der Publikation. Auf der Pressekonferenz der Neurowoche berichtete einer der federführenden Leitlinienautoren, Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen, über die wichtigsten Punkte, die zusammen mit Frau PD. Dr. Stefanie Förderreuther, München, und Prof. Dr. Peter Kropp, Rostock, als weitere federführende Autorinnen/Autoren sowie mit weiteren 31 Ko-Autoren/-Autorinnen erarbeitet wurden. Die Leitlinie wird herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) unter Beteiligung der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) und der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG).

Seit der vorhergehenden Leitlinienversion von 2018 haben sich auf dem Gebiet der medikamentösen Migränebehandlung mit der Zulassung neuer Substanzen Änderungen ergeben. Die Empfehlungen wurden um die aktuelle Evidenz erweitert. Zum Einsatz kam dabei das international anerkannte iterative Delphi-Verfahren. Die gesamte Leitlinie entstand ohne Finanzierung durch Dritte, auch haben Autoren und Autorinnen mit möglichen Interessenkonflikten nicht an den jeweiligen Kapiteln mitgearbeitet bzw. sich in der Delphi-Abstimmung enthalten.

Neues zur medikamentösen Therapie der akuten Migräne

Für die Therapie der akuten Migräne im Erwachsenenalter wurden als Ergänzung zu den etablierten Triptanen Substanzen aus den neuen Substanzgruppen der Gepante (Rimegepant) und Ditane (Lasmiditan) zugelassen. Die Markteinführung beider Substanzen wird erwartet.

Diese Substanzen greifen kausal in die spezifischen Pathomechanismen des Migränekopfschmerzes ein. Ein Migräneanfall geht nicht nur mit der Freisetzung von Serotonin, sondern auch mit der verstärkten Produktion von Neuropeptiden wie dem Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP) einher. Während Triptane an zwei verschiedenen Serotoninrezeptoren angreifen (5-HT1B und 5-HT1D), wirken Ditane (z. B. Lasmiditan) nur auf einen einzigen, nämlich den 5-HT1F-Rezeptor, dessen Aktivierung zu keiner Blutgefäßverengung führt. Ditane sind somit hochselektiv und erweitern die Möglichkeiten der Akuttherapie bei Patienten und Patientinnen mit hohem Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, bei denen Triptane kontraindiziert sind.

Die zweite neue Substanzgruppe, Gepante, wirkt dagegen wie die monoklonalen Antikörper, die seit gut vier Jahren zur Migräneprophylaxe zugelassen sind, spezifisch am CGRP-Rezeptor, und blockiert die Effekte des migräneauslösenden Botenstoffs CGRP. CGRP steuert die Übertragung von Schmerzsignalen und wirkt gefäßerweiternd. Gepante sind sog. Small Molecules, sie wirken als CGRP-Rezeptor-Antagonisten, sodass CGRP nicht mehr über seinen Rezeptor wirken kann. Das bereits zugelassene, aber in Deutschland noch nicht erhältliche Rimegepant kann zur Therapie der akuten Migräneattacke bei Patientinnen und Patienten eingesetzt werden, die Kontraindikationen für den Einsatz der Triptane haben. Rimegepant kann auch oral (alle zwei Tage eine Tablette) in der Migräneprophylaxe eingesetzt werden. Gepante können jedoch im Gegensatz zu den monoklonalen Antikörpern direkt im Zentralnervensystem wirken und zu zentralen Nebenwirkungen und Interaktionen führen.

Lasmiditan und Rimegepant dürfen bei einem akuten Migräneanfall eingesetzt werden, wenn klassische Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure und nicht steroidale Antirheumatika (NSAR, z. B. Ibuprofen, Naproxen) oder Triptane nicht ausreichend wirken oder kontraindiziert sind.

Neues zur medikamentösen Migräneprophylaxe

Bei häufigen Migräneattacken reicht die Akuttherapie allein nicht aus. Um die Lebensqualität für Betroffene bei häufigen Attacken zu verbessern und der Entwicklung einer Chronifizierung durch Übergebrauch von Akutmedikamenten vorzubeugen, sollte eine Migräneprophylaxe erfolgen. Ziel ist es, die Frequenz, Stärke und/oder Dauer der Attacken zu reduzieren. Klassische, unspezifische Substanzen sind Betablocker, Amitriptylin, Topiramat, Flunarizin und Onabotulinumtoxin (bei chronischer Migräne) sowie seit 2018 die spezifischen monoklonalen Antikörper gegen CGRP bzw. seinen Rezeptor (Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab). Diese kommen bei Therapieresistenz, Kontraindikation oder Unverträglichkeit gegenüber den klassischen Prophylaxemedikamenten zum Einsatz. Hier steht nun noch ein neuer vierter monoklonaler Antikörper (Eptinezumab) zur Verfügung, der einmal alle zwölf Wochen i. v. appliziert wird.

„Das entscheidende Problem im klinischen Alltag ist, dass sehr viele Migränebetroffene nicht ausreichend behandelt sind bzw. dass die Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe nicht ausgeschöpft werden“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Charly Gaul (Frankfurt), Generalsekretär und Pressesprecher der DMKG. Prof. Diener ergänzt: „Gerade bei Therapieresistenz sollte eine neurologische Mit-betreuung der Betroffenen erfolgen.“ Neu ist die Empfehlung der Experten, die Dauer einer prophylaktischen Therapie von der Schwere und Dauer der Erkrankung sowie von den aktuellen persönlichen Lebensumständen abhängig zu machen. „Natürlich soll die Indikation für eine Prophylaxe auch weiterhin überprüft werden, aber es gibt keinerlei wissenschaftliche Evidenz dafür, dies regelhaft nach neun oder zwölf Monaten zu tun“, erklärt der Präsident der DMKG PD Dr. Tim Jürgens. Gera-de Patientinnen und Patienten mit einer chronischen Migräne oder Patientinnen und Patienten, die sich in einer besonders belastenden Lebensphase befinden, sind besonders schwer betroffen und verschlechtern sich oft, wenn die Therapie bereits nach einem Jahr beendet wird. Hier kann es gerechtfertigt sein, die Dauer einer Prophylaxe auf zwei Jahre auszuweiten.

Nicht medikamentöse Maßnahmen zur Prophylaxe und Therapie

Explizit wird in der neuen Leitlinie bei der Migräneprophylaxe auch auf die Wirksamkeit von nicht medikamentösen und insbesondere verhaltenstherapeutischen Maßnahmen hingewiesen. An erster Stelle sind Ausdauersport und Entspannungstechniken zu nennen, was den Betroffenen auch in dieser Leitlinienfassung angeraten wird. Hocheffektiv wirken weitere verhaltenstherapeutische Verfahren. Die Basis hierfür ist eine individuelle Beratung über die Erkrankung selbst und darüber, wie Lifestyle-Faktoren Einfluss nehmen, zusätzlich können kognitive Verhaltenstherapie und Biofeedback zum Einsatz kommen.

Neu als Möglichkeit zur Behandlung der akuten Migräne in die Leitlinie aufgenommen wurde die nicht invasive Neurostimulation, bei der über Klebeelektroden im Stirnbereich eine externe transkutane Stimulation des Trigeminusnerven erfolgt. Die Leitlinie kommt zu dem Fazit: „Die externe transkutane Stimulation des N. trigeminus im supraorbitalen Bereich ist zur Behandlung von akuten Migräneattacken wirksam.“ Prof. Diener betont: „Gerade für Betroffene, bei denen aufgrund häufiger Schmerzmitteleinnahme die Gefahr eines Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes besteht, kann das Verfahren eine gute Option sein.“ Eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen erfolgt derzeit aber nicht.

Aktualisiert bzw. ergänzt wurden in den Leitlinien auch Hinweise zu unterstützenden Maßnahmen. So werden z. B. bestimmte Smartphone-Applikationen und telemedizinische Angebote zur Unterstützung von Diagnostik und Therapie grundsätzlich empfohlen. Allerdings liegen die Ergebnisse laufender randomisierter kontrollierter Studien zur klinischen Effektivität bzw. Verbesserung der Versorgungsqualität durch diese Apps derzeit noch nicht vor, sodass in der Leitlinie keine abschließende Aussage zum Evidenzgrad getroffen werden kann.

[1] Diener HC, Förderreuther S, Kropp P et al., Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (noch nicht verfügbar)

[2] Goßrau G, Förderreuther S, Ruscheweyh R, Ruschil V, Sprenger T, Lewis D, Kamm K, Freilinger T, Neeb L, Malzacher V, Meier U, Gehring K, Kraya T, Dresler T, Schankin CJ, Gantenbein AR, Brössner G, Zebenholzer K, Diener HC, Gaul C, Jürgens TP. Konsensusstatement der Migräne- und Kopfschmerzgesellschaften (DMKG, ÖKSG & SKG) zur Therapiedauer der medikamentösen Migräneprophylaxe [Consensus statement of the migraine and headache societies (DMKG, ÖKSG, and SKG) on the duration of pharmacological migraine prophylaxis]. Nervenarzt. 2022 Oct 26. German. doi: 10.1007/s00115-022-01403-1. Epub ahead of print. PMID: 36287216

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