Präzisionsonkologie: Fortschritt für alle, wenige, oder doch für niemanden?
16.06.2023 - Das Potenzial der Präzisionsonkologie für Patient*innen ist riesig – zumindest in der Theorie. Denn in der Versorgungsrealität ist die Präzisionsonkologie alles andere als ein Selbstläufer.
Damit in Zukunft mehr Patient*innen in der breiten Versorgung einen möglichst frühen Zugang zu innovativen und hochpräzisen Krebstherapien erhalten, braucht es ein Neudenken im Gesundheitssystem – von der Regulatorik bis zur täglichen Versorgung. Anlässlich des Hauptstadtkongresses (HSK) wurden im Rahmen einer Veranstaltung von Roche aktuelle Chancen und Herausforderungen der Präzisionsonkologie diskutiert.
Ob nun personalisierte Krebstherapien, die sich zielgerichtet gegen individuelle Tumortreiber wie HER2, ALK, oder NTRK richten, oder Checkpoint-Inhibitoren, die die Immunabwehr gegen den Tumor stimulieren - die Präzisionsonkologie ist für eine zunehmende Zahl an Patient*innen heute schon Realität. Und weiterer Fortschritt kündigt sich bereits an: „Wir blicken auf eine Welle von hochpräzisen und Biomarker-basierten Therapien, die innerhalb weniger Jahre über die onkologische Versorgung hinwegrollen wird“, so Dr. Benedikt Westphalen, Ärztlicher Leiter am Comprehensive Cancer Center der LMU München. „Das ist eine riesige Chance für die Behandlung von Patient*innen – und gleichzeitig eine enorme Herausforderung: Denn schon heute sehen wir, dass unser Gesundheitssystem und dessen Strukturen auf den medizinischen Wandel in vielen Bereichen nicht ausreichend eingestellt sind und der Fortschritt nicht in der breiten Versorgung ankommt.“
Diagnostik als integraler Bestandteil der Versorgung
Beispiel Diagnostik: Eine umfassende molekulargenetische Diagnostik ist heute und in Zukunft mehr denn je Voraussetzung für die Präzisionsonkologie. Bei bis zu 100.000 Krebspatient*innen in Deutschland wäre schon heute eine erweiterte molekulare Diagnostik angezeigt. In der Realität ist die umfassende molekulargenetische Diagnostik jedoch nur unzureichend in den Versorgungsstrukturen verankert. Unter anderem auch, weil deren Vergütung nicht bei allen Tumorarten und -stadien übernommen wird. „Wenn wir die Präzisionsonkologie in der breiten Versorgung etablieren wollen, muss State of the Art-Diagnostik wie das Next Generation Sequencing (NGS) ein integraler Bestandteil der Behandlung sein – von der Erstdiagnose bis hin zum regelmäßigen Therapiemonitoring“, so Westphalen.
Neue Wege der Evidenzgenerierung
Dass die Präzisionsonkologie auch die klinische Forschung und Entwicklung radikal verändert, betont Ralf Zerbes, Roche Pharma AG: „Angesichts der Tatsache, dass Behandlungsstrategien immer präziser auf immer kleinere Patient*innen-Kollektive zugeschnitten werden, stoßen klassische randomisierte klinische Studien zunehmend an die Grenzen der Umsetzbarkeit. Es würde zum Teil Jahrzehnte dauern, um überhaupt die notwendige Anzahl an Patient*innen zu rekrutieren.“ Eine Antwort auf diese Herausforderung liefern neue Studienkonzepte, die heute längst Standard in der klinischen Forschung sind. Beispielhaft dafür stehen die Studien TAPISTRY und CUPISCO: In den Studien werden Patient*innen mit soliden Tumoren (TAPISTRY) bzw. einem CUPiv-Syndrom (CUPISCO) gemäß ihres individuellen Tumorprofils mit einer personalisierten Therapie oder einer Krebsimmuntherapie behandelt.
Innovation wird ausgebremst
Das Problem: Neue Wege der Evidenzgenerierung, ob durch moderne Studienkonzepte, die Einbindung von Real-World-Daten oder früher messbare Endpunkte, sind in der Nutzenbewertung kaum vorgesehen. „Das AMNOG-Verfahren hält mit dem Fortschritt in Forschung und Entwicklung nicht Schritt“, so Zerbes. „Innovative Behandlungskonzepte werden hier mit teilweise längst überholten Maßstäben aus dem letzten Jahrtausend bewertet. So dynamisch und vielseitig sich die Therapielandschaft heute entwickelt, so flexibel sollte auch unsere Regulatorik darauf reagieren können.“
Das im vergangenen Jahr verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) verschärft die Situation zusätzlich: Bei Arzneimitteln, die eine patentgeschützte Vergleichstherapie haben und – aus oft formalen Bewertungsgründen – einen geringen oder nicht quantifizierbaren Zusatznutzen attestiert bekommen, greift nun automatisch ein Preisdeckel. Selbst wenn sie einen medizinischen Vorteil bieten, ist der Erstattungsbetrag auf das Level der Vergleichstherapie begrenzt. Kombinationen aus innovativen Arzneimitteln unterliegen in diesen Fällen zusätzlich einem pauschalen Zwangsrabatt von 20%. „Der Wert medizinischer Innovationen für Patient*innen mit schwerwiegenden Erkrankungen wird hier gezielt untergraben“, beklagt Zerbes. „Wenn Innovation nicht mehr als Innovation honoriert wird, bremst dies die Forschung aus und macht den Markteintritt für innovative Therapien unattraktiv – das gefährdet letztlich die Versorgung von Patient*innen.“
Ein neues Denken – und echte Zusammenarbeit
Das Potenzial, das die Präzisionsonkologie Patient*innen heute und in Zukunft bietet, ist enorm – die Versorgungsrealität und Regulatorik in Deutschland wird dem Potenzial bislang jedoch nicht gerecht. „Das Zusammenspiel von moderner Diagnostik, präzisen Arzneimitteln und smarten Technologien bietet uns heute mehr denn je die Chance, ein grundlegend neues Verständnis in der medizinischen Versorgung von Patient*innen mit Krebs zu etablieren“, so Westphalen. „Voraussetzung dafür ist aber, dass wir bestehende Prozesse und Strukturen neu Denken und zu transsektoraler Vernetzung und echter Zusammenarbeit aller Beteiligten im Gesundheitswesen bereit sind.“