Premiere: MS-Zentrum nutzt Sprachtests als digitale Biomarker
30.05.2022 - Das Multiple-Sklerose-Zentrum der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden startet am Welt-Multiple-Sklerose-Tag, eine Evaluierungsstudie für ein neues Verfahren zur Diagnostik und Verlaufskontrolle der neurodegenerativen Erkrankung.
Bei dem neuen digitalen Projekt steht die Analyse des Sprechens im Mittelpunkt. Gesammelt werden die Daten über eine App. Dem Forschenden-Team geht es dabei um die Zusammenhänge zwischen Sprache und Denken, Depression sowie Müdigkeit, die sie mit Hilfe einer digitalen Sprachanalyse untersuchen. Diese kognitiven und psychischen Funktionen, die in der Diagnostik der Multiplen Sklerose (MS) aufgrund ihrer Häufigkeit besonders relevant sind, können im Verlauf der Erkrankung eine wichtige Rolle spielen.
Das Zentrum für klinische Neurowissenschaften der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Dresden ist mit seinem MS-Zentrum bereits seit vielen Jahren internationaler Innovator sowohl für die Versorgung von Patienten als auch für die Erforschung dieser aktuell unheilbaren Erkrankung. Dafür wurde das MS-Living-Lab etabliert. Dieses Real-Labor ermöglicht den verschiedenen Akteuren – darunter auch medizinisches Personal sowie IT-Experten – ihre Ideen für Innovationen vor Ort zusammen mit den zukünftigen Nutzenden – den MS-Betroffenen sowie dem ärztlichen wie pflegerischen Personal – zu testen und zu optimieren. Oberstes Ziel ist der „Digitale Zwilling“. Mit der im Rahmen eines Forschungsprojektes hinzukommenden Sprachanalyse per App erweitert das MS-Zentrum sein Spektrum.
Was kann Sprachanalyse leisten?
Multiple Sklerose führt mit ihren überall im Gehirn auftretenden Entzündungsherden zu Problemen in den unterschiedlichsten neurologischen Funktionssystemen. Dies betrifft vor allem die Denkfähigkeit, das Sehen sowie motorische Fähigkeiten. Darüber hinaus kann es zusätzlich zu Veränderungen in der Stimmung oder zu anhaltender Müdigkeit (Fatigue) kommen. Diese für MS typischen Symptome wirken sich indirekt auch auf das Sprechen aus. „Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie sich unsere Sprache bei freudigen und traurigen Ereignissen moduliert“, sagt Prof. Tjalf Ziemssen, Leiter der Multiple-Sklerose-Zentrums: „Bei der MS kommen beispielsweise Probleme bei der Bildung von Lauten hinzu, wenn die betroffene Person spricht. Undeutliches, verwaschenes Sprechen, eine monotone Sprachmelodie oder Kurzatmigkeit beim Sprechen können ebenfalls vorkommen“. Probleme mit der Aufmerksamkeit, dem Gedächtnis und der Wahrnehmung wirken sich ebenfalls auf das Sprechen aus. So kann beispielsweise die Bildung von langen Sätzen bei einer reduzierten Gedächtnisspanne erschwert sein, oder nur selten benutzte Wörter sind nicht mehr erinnerlich. Da die Auswertung der Sprache eine Möglichkeit darstellt, um auch dahinterliegende Funktionen wie Stimmung oder Denkfähigkeit zu erfassen, kann eine Sprachanalyse über mehrere Ansatzpunkte relevante Informationen für die Beschreibung der MS-bedingten Probleme liefern.
Sprachdiagnostik bei Alzheimer-Demenz liefert Blaupause
Die sprachanalytische Erkennung von MS-spezifischen Symptomen wie Müdigkeit, Denken und Depression, ist bei anderen Erkrankungen wie beispielsweise der Alzheimer-Demenz bereits gut belegt. „Ein Transfer der Ergebnisse in den MS-Bereich könnte einen signifikanten Beitrag zum besseren Monitoring der durch Multiple Sklerose ausgelösten Problemen leisten“, so Prof. Ziemssen. „Bisher ist aufgrund der Vielfalt der Symptome eine lange aufwändige Testung notwendig, um die Facetten der Krankheit und den Schweregrad der einzelnen Symptome darzustellen. Die Erfassung von Müdigkeit und Depression kann darüber hinaus oft nur über den Selbstbericht der Patienten erfolgen, was die Objektivität der Verfahren limitiert. Eine Untersuchung mittels des digitalen Biomarkers Sprache stellt eine einfachere und objektive Ergänzung dar, die sogar auch Spaß machen kann.“ Dieser objektive und standardisierte Ansatz könnte deshalb bereits subklinische Sprechprobleme bei nur leicht von MS beeinträchtigten Personen offenbaren. Darüber hinaus können Zweitaufgaben-Parameter, zum Beispiel das Sprechen während des Gehens, wichtige Einblicke in das Zusammenspiel aus Denk- und motorischen Fähigkeiten geben und eine innovative und feiner differenzierte Untersuchung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen MS-Problemen ermöglichen.
App ermöglicht engmaschigeres Monitoring ohne Besuch der Ambulanz
Digitale Biomarker, wie die Sprachanalyse mittels App, verfügen außerdem grundsätzlich über das Potential, notwendige Untersuchungen auch aus der eigenen Häuslichkeit mit einem geringeren Aufwand zu ermöglichen. Damit wäre nicht nur ein engmaschigeres Monitoring realisierbar, sondern es ließen sich auch Patientinnen und Patienten in die Untersuchung einbeziehen, die beispielsweise aufgrund motorischer Beeinträchtigungen oder der Entfernung zum MS-Zentrum nur in größeren Abständen in Dresden ihre Visiten wahrnehmen können. Hier wäre es möglich, die Sprachanalyse zum Beispiel an die Videosprechstunde anzukoppeln. „Passive“ Sprachanalysen, bei der eine Sprachaufzeichnung während des generellen Arztgespräches erfolgt und analysiert werden kann, sind ebenfalls denkbar. Sie stellen ein zeitsparendes Verfahren für beide Seiten dar, um auch ohne Ambulanztermin Müdigkeit, Denkprobleme, Depression und die Notwendigkeit einer logopädischen Beübung screenen zu können.
Ob sich Sprachtests analog zur Alzheimer-Diagnostik auch bei MS als wichtiger Marker etablieren lassen, wird nun am MS-Zentrum Dresden im Rahmen der Forschungskooperation INTONATE mit dem Schweizer Unternehmen Hoffmann-La Roche und dem Softwareentwickler ki:elements aus Saarbrücken untersucht. Da diese Daten auch mit einer Kontrollgruppe verglichen werden sollen, sucht das MS-Zentrum Dresden teilnahmewillige Patienten.
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