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SAP-Strategie passt nicht zur Klinik-Realität

16.03.2023 - Im Oktober 2022 hat SAP im Rahmen des Jahreskongresses der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG) angekündigt, dass es keine Nachfolge für die Branchenlösung SAP Patientenmanagement (IS-H) in der S/4HANA-ERP-Welt und für das klinische Informationssystem i.s.h.med von Partner Oracle Cerner geben wird.

Der DSAG-Arbeitskreis Healthcare hat die Ankündigung zum Anlass genommen, den Status quo innerhalb der im Arbeitskreis vertretenen Krankenhäuser und Kliniken mittels einer Umfrage* zu ermitteln.

Auch ein knappes halbes Jahr nach der Ankündigung stehen Kliniken und Krankenhäuser vor einer ernstzunehmenden Situation. So nutzen Zweidrittel der Befragten aktuell IS-H zur Patientenadministration und -abrechnung und bei 80 Prozent ist die Lösung das patientenführende System. „In vielen Kliniken und Krankenhäusern wird IS-H auch für weitere Zwecke verwendet, wie z. B. für die Abrechnung außerhalb von Krankenhäusern, zur Dokumentation oder zur Anbindung an die Telematikinfrastruktur und für Datenmeldungen. Diese Häuser trifft die neue SAP-Strategie noch härter“, so Hermann-Josef Haag, DSAG-Fachvorstand Personalwesen & Public Sector.

SAP verweist auf Partnerlösungen

Laut SAP sollen die bis dato in IS-H abgebildeten Funktionalitäten für Patientenadministration und -abrechnung künftig durch moderne Krankenhausinformationssysteme (KIS) verschiedener Hersteller abgedeckt werden. „Das ist vor dem Hintergrund, dass mehr als die Hälfte der Befragten i.s.h.med als führendes klinisches Informationssystem einsetzen, eine fatale Situation“, urteilt Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare. Entsprechend deutlich fällt die Forderung der DSAG aus: Häuser, die i.s.h.med einsetzen, brauchen schnellstmöglich Klarheit darüber, wie und wann Oracle Cerner eine verbindliche Nachfolge zumindest mit den bestehenden Funktionen und einer Perspektive für Erweiterungen präsentiert.

Pfeil
Michael Pfeil, Sprecher des DSAG-Arbeitskreises Healthcare & hauptberuflich IT-Abteilungsleiter SAP/Betriebswirtschaftliche Applikationen beim Universitätsklinikum Bonn Foto: DSAG

 

 „SAP will ihren Kunden nach eigenen Angaben mit dieser Strategie die Wahl ihres modularen Set-ups für die Patientenabrechnung und ihre klinischen Prozesse überlassen. Doch wir können nicht länger warten. SAP-Partner müssen uns endlich mitteilen, wie schnell sie uns eine vollständige Lösung für Patientenabrechnung und -administration, im besten Fall ergänzt um die notwendigen KIS-Funktionalitäten, realisieren können“, so Tatjana Neitz-Kluge, stellvertretende Sprecherin des Arbeitskreises Healthcare. 13 Prozent der Befragten gaben an, dass die Ablösung bereits in Arbeit ist, weitere 13 Prozent der Befragten hatten bereits vor der Ankündigung von SAP mit den Planungen begonnen. 24 Prozent befassen sich aufgrund der SAP-Ankündigung damit. Die Hälfte hatte zum Zeitpunkt der Umfrage noch keine Pläne zur Ablösung.

Kluge
Tatjana Neitz-Kluge, stellvertretende Sprecherin des DSAG-Arbeitskreises Healthcare und hauptberuflich tätig bei der Universitätsmedizin Göttingen Foto: DSAG

 

Anwender wünschen sich Flexibilität

Ebenfalls abgefragt wurde, wieviel Eigenentwicklungen die Befragten in den Bereichen ERP, IS-H und i.s.h.med haben. 64 Prozent schätzen diese als umfangreich ein, während 27 Prozent Eigenentwicklungen im mittleren Umfang einsetzen und 9 Prozent den Anteil ihrer Eigenentwicklungen als gering einschätzen. „Krankenhäuser und Kliniken sind heute von IS-H in Form von Customizing und Business-Add-ins eine Flexibilität gewöhnt, die durch Erweiterungen auch bei einer Nachfolgelösung gegeben sein sollte. Dies ist wichtig, da es in Deutschland viele bundesländerspezifische und sogar krankenhausindividuelle Abrechnungsformen gibt“, erläutert Tatjana Neitz-Kluge.

S/4HANA-Projekte stocken

Die Umfrage hat auch den Status quo hinsichtlich S/4HANA in den Krankenhäusern und Kliniken ermittelt. Vier Prozent der befragten Häuser haben S/4HANA On-Premise im Einsatz und bei fünf Prozent läuft dafür ein Implementierungsprojekt. „Zwar planen immerhin 47 Prozent den Einsatz von S/4HANA On-Premise, doch unentschieden sind mit 42 Prozent fast genauso viele. Die neue SAP-Healthcare-Strategie hat laufende S/4HANA-Vor- und -Umsetzungsprojekte in vielen Häusern ins Wanken gebracht oder zunächst sogar komplett gestoppt“, weiß Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare. Dabei sei jedoch genau das fatal, denn es gehe noch mehr kostbare Zeit verloren für die vielen anstehenden Aufgaben.

Hürden auf dem Weg zur Cloud

Ein weiteres Thema der Umfrage war die grundsätzliche Haltung zu Cloud-Anwendungen – für S/4HANA, Personal-, Patientenmanagement- und für medizinisch-klinische Lösungen. 11 Prozent der Befragten schließen dies kategorisch aus, 62 Prozent halten den Einsatz von Cloud-Anwendungen für denkbar, allerdings nicht für Gesundheitsdaten und 24 Prozent für denkbar. 4 Prozent geben an, gerne Cloud-Anwendungen einsetzen zu wollen. Gleichermaßen wurde gefragt, ob es Einschränkungen zum Betrieb von Cloud-Diensten in den Einrichtungen gibt. Hier waren Mehrfachnennungen möglich. 71 Prozent sahen einen gesetzlichen Widerspruch zum Datenschutz und zur Datensicherheit hinsichtlich der Speicherung von Patientendaten. 60 Prozent der Befragten geben an, mit Bedenken bezüglich Sicherheit konfrontiert zu sein. 55 Prozent sprechen von Bedenken bezüglich der Verfügbarkeit. „Nur drei Krankenhäuser haben keinerlei Einschränkungen zum Betrieb von Cloud-Diensten angegeben. Das ist ein verschwindend geringer Teil“, ordnet Tatjana Neitz-Kluge ein.

SAP propagiert Business Technology Platform (BTP)

Relevant wird dieser Aspekt insbesondere vor dem Hintergrund, dass SAP darauf verwiesen hat, über die bestehenden Schnittstellen (API) hinaus weitere unterschiedliche Möglichkeiten bieten zu wollen, um Krankenhausinformationssysteme, die zukünftig die bisherigen IS-H-Funktionalitäten abbilden sollen, in das S/4HANA-Kernsystem zu integrieren. Zu diesen Optionen gehören die Foundation Services, eine Anbindung über die FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources)-Schnittstelle – in der Cloud.

„Die FHIR-Schnittstelle in der SAP Business Technology Platform (BTP) wird weiterhin von SAP propagiert, aber uns als Anwender:innen ist unklar, wie wir konkret damit verfahren sollen – und vor allem wissen wir nicht, ob dann die Gesundheitsdaten in der Cloud lägen“, erläutert Michael Pfeil und ergänzt: „Die Cloud-Nutzung im Klinikbereich ist nicht so ohne weiteres möglich – bevor die BTP im Kontext der Patientendaten genutzt werden kann, müssen Anpassungen erfolgen.“ Gefordert sei hier unter anderem auch die Politik. Standards müssten etabliert, Ressourcen bereitgestellt und der Datenschutz angepasst und vereinheitlicht werden. Aus DSAG-Sicht sollten für Behörden und öffentliche Institutionen im jeweiligen Land Cloud-Instanzen aufgesetzt werden oder eine Möglichkeit bieten, die BTP im eigenen Rechenzentrum zu betreiben. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass laut Umfrage mehr als 90 Prozent der Befragten die BTP zurzeit noch nicht nutzen.

Realitäten der Kunden zu wenig berücksichtigt

Somit stehen zusammengenommen nicht nur die Einführung von S/4HANA und der BTP, sondern auch die (Neu-)Entwicklung und Einführung von Alternativlösungen für die Patientenadministration und die Patientenabrechnung sowie für das KIS als Ersatz für IS-H und i.s.h.med auf der Agenda. „Im Kontext der Projekte rund um das Krankenhauszugangsgesetz (KHZG) und einer enormen Auslastung der Ressourcen sowie der engen Zeitrahmen, geht die SAP-Strategie an den Realitäten der Kund:innen vorbei“, kritisiert Michael Pfeil. Das KHZG binde Ressourcen und übe einen erheblichen Druck auf alle Gesundheitseinrichtungen, Berater und Implementierungspartner aus. Gleichzeitig werde derzeit umfangreich in die jetzigen KIS investiert, was in Frage zu stellen sei, wenn durch die Ankündigungen von SAP zu IS-H nun auch die Strategie des KIS-Systems überdacht werden muss. Das behindere S/4HANA-Projekte zusätzlich.

„Vor diesem Hintergrund überrascht es aus DSAG-Sicht nicht, dass nur 9 Prozent der Befragten eine realistische Chance sehen, eine IS-H-Nachfolgelösung bis zum Wartungsende 2027 zu implementieren – natürlich vorausgesetzt, dass diese zeitgerecht zur Verfügung steht“, erläutert Tatjana Neitz-Kluge. 42 Prozent halten 2030 für realistisch. Fast die Hälfte der Befragten gibt bei dieser Frage „Sonstiges“ an und benennt Bedingungen, wie eine rechtzeitig verfügbare Nachfolgelösung und kompetente Partner mit ausreichenden Ressourcen als Voraussetzungen, um eine IS-H-Nachfolgelösung tatsächlich bis 2030 zu implementieren. Insgesamt sorgen die herrschenden Unklarheiten für Verunsicherung in der Branche – und sie haben massive Auswirkungen auf Transformations-Roadmaps und -Planungen in den bereits stark belasteten Häusern. Aus Anwendersicht ist die Strategie von SAP im Healthcare-Bereich nicht nachvollziehbar und kritisch zu beurteilen.

Haag
Hermann-Josef Haag, DSAG Fachvorstand Personalwesen & Public Sector Foto: DSAG

 

Anwender benötigen mehr Zeit

Kurz gefasst lautet eine zentrale Forderung der DSAG an SAP daher: Mehr Zeit. SAP hat für die Software SAP ERP Central Component (SAP ECC) eine Mainstream-Wartungszusage bis zum 31.12.2027 gegeben, an die sich eine kostenpflichtige, optionale Extended-Wartung bis Ende 2030 anschließt. „Es ist unrealistisch, dass alle Häuser zwischen 2024 und 2030 auf Partnerlösungen migrieren können, die aktuell noch nicht entwickelt sind“, erläutert Hermann-Josef Haag und ergänzt: „Die potenziellen Partner und die IT-Abteilungen in den Häuser selbst haben nicht ausreichend Ressourcen, um alle Krankenhäuser zu bedienen.“ Entsprechend wäre ein erster wichtiger Schritt, dass SAP eine Extended Maintenance ohne Aufpreis anbietet.

 

*Erhebungsgrundlage

Im Zeitraum vom 29. November bis 12. Dezember 2022 haben sich 55 Teilnehmer:innen aus dem DSAG-Arbeitskreis Healthcare an der Umfrage beteiligt. Mehr als Zweidrittel der Befragten ist für Krankenhäuser bzw. Kliniken mit weniger als 10 Einrichtungen im Verbund tätig. Knapp ein Drittel ist für Krankenhäuser bzw. Kliniken mit mehr als 10 Einrichtungen im Verbund tätig. Insgesamt vertreten die Umfrageteilnehmenden Häuser mit 133.224 Betten.

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