Dosis-Wirkungsbeziehung berechnen
24.07.2015 -
Potentielle neue Arzneimittel durchlaufen strenge Tests, bevor sie zugelassen werden. Die meisten fallen dabei durch, nur 0,01 bis 0,02 % schaffen es bis zur Marktreife.
Einige Kandidaten werden jedoch zu Unrecht verworfen, vermutet Mathematiker Prof. Dr. Holger Dette, weil die Pharmakonzerne die finalen Tests an Menschen nicht mit der optimalen Dosis durchführen. Gemeinsam mit Doktorandin Kirsten Schorning und der Biostatistikabteilung von „Novartis“ hat er ein neues mathematisches Verfahren entwickelt, mit dem sich Dosisfindungsstudien effizienter planen lassen.
Arzneistoffe durchlaufen vor ihrer Zulassung drei klinische Testphasen. In Phase 1 wird die Substanz zum ersten Mal an Menschen erprobt. Ziel ist es herauszufinden, wie verträglich sie ist, wie sie sich im Körper verteilt und wie dieser sie weiterverarbeitet und ausscheidet. In Phase 2 geht es darum, anhand von Versuchen mit ein paar Hundert Patientinnen und Patienten die Wirkung zu erforschen und die optimale Dosierung zu bestimmen. In der dritten Phase wird das potentielle Medikament schließlich mit der in Phase 2 bestimmten optimalen Dosis mit mehreren Tausend Patienten über längere Zeit getestet. Was aber, wenn in Phase 3 nicht wirklich die optimale Dosis zum Einsatz kommt, sondern das Medikament zu stark oder zu schwach dosiert ist? Im ersten Fall besteht die neue Substanz die Tests vermutlich nicht, weil sie zu starke Nebenwirkungen auslöst. Bei zu schwacher Dosierung hingegen bleibt die erhoffte Wirkung unter Umständen vollständig aus. Ziel von Phase 2 ist es stets, die minimale wirksame Dosis zu finden, also die Wirkstoffmenge, die den notwendigen Effekt erzielt, zum Beispiel den Blutdruck um einen bestimmten Betrag senkt, ohne dabei zu starke Nebenwirkungen zu verursachen. Aber wie findet man die optimale Dosis? Bislang werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Phase 2 in mehrere gleich große Gruppen eingeteilt. Der mögliche Dosisbereich, etwa 0 bis 150 mg, wird ebenfalls gleichmäßig (oder gleichmäßig auf einer logarithmierten Skala) aufgeteilt, so dass jede Gruppe eine bestimmte Dosis verabreicht bekommt. Die erste Gruppe erhält z. B. 0 mg Wirkstoff, also ein Placebo, die zweite Gruppe 30 mg, die dritte 60 mg, die vierte 90 mg und so weiter.
Aus Sicht des Statistikers Holger Dette ist dieses Vorgehen suboptimal. Mit mehr Mathematik bei der Studienplanung könnte man die optimale Dosis wesentlich genauer bestimmen. Aber wie? Dazu muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie Dosis und Wirkung im mathematischen Modell zusammenhängen (Abb. 2). Die pharmakokinetische Forschung hat gezeigt, dass es im Prinzip nur wenige verschiedene Funktionen gibt, mit denen sich alle Dosis-Wirkungsbeziehungen von Arzneistoffen beschreiben lassen. Die verschiedenen Funktionstypen lassen sich aus chemischen Reaktionsgleichungen mithilfe der Theorie der Differentialgleichungen bestimmen, einem klassischen Teilgebiet der Mathematik. Ein Beispiel für ein solches Modell ist das EMAX-Modell: f(x)=a+bx/(c+x).
Die Funktion f(x) ordnet dabei jedem Dosiswert x eine bestimmte Wirkung zu; a, b und c sind wirkstoffspezifische Parameter. Würde man die Dosis-Wirkungsfunktion und die Parameter a, b und c für das neue Medikament kennen, könnte man die minimale wirksame Dosis leicht anhand des Grafen ablesen oder anhand der Formel ausrechnen (Abb. 2). Das Problem: Bei der Entwicklung eines neuen Arzneimittels kennt man weder das Modell noch die Parameter, die die Dosis-Wirkungsbeziehung beschreiben. Also müssen die Pharmafirmen durch die Tests in Phase 2 gute Modelle für die Beschreibung der Dosis-Wirkungsbeziehung entwickeln, um sich möglichst nah an die optimale Dosis heranzutasten. Alle Probandinnen und Probanden gleichmäßig auf sechs Dosisstufen aufzuteilen, ist aber nicht der beste Weg dafür, sagt das Bochumer Team vom Lehrstuhl für Stochastik.
Anhand eines vereinfachten Beispiels erklärt Holger Dette, warum es nicht egal ist, wie viele Probanden man mit den jeweiligen Dosisstufen untersucht: Nehmen wir vereinfacht an, die Wirkung unseres Medikaments hinge linear von der Dosis ab, das heißt, wir können die Abhängigkeit durch eine Gerade beschreiben. Wir erheben eine Reihe von Messwerten, durch die wir eine Ausgleichsgerade legen, um das zugrunde liegende Modell zu bestimmen (Abb. 3). Wenn wir alle Messwerte bei nur einem x-Wert, also einer Dosisstufe, erheben, kann unsere Ausgleichsgerade jede beliebige Steigung annehmen, und wir können keine Aussage zur minimalen wirksamen Dosis machen. Messen wir bei zwei x-Werten, sieht die Lage besser aus. Wenn wir die Dosisstufen allerdings zu dicht beieinander wählen, sind immer noch Ausgleichsgeraden mit vielen verschiedenen Steigungen denkbar. Besser wird es, wenn wir die Dosierungen möglichst unterschiedlich wählen (Abb. 3).
Dosis und Wirkung von Arzneistoffen hängen aber nicht linear voneinander ab; komplexere Modelle beschreiben die Beziehung. Das RUB-Team hat eine Möglichkeit gefunden zu berechnen, wie viele Patienten am besten mit welcher Dosis behandelt werden sollten, ohne die zugrunde liegende Funktion genau zu kennen. Gewisse Kenntnisse über die möglichen Modelle reichen für die Methode aus: Zum einen hat die jahrelange Pharmaforschung ergeben, dass es nur wenige prinzipiell unterschiedliche Modelle gibt, um die Dosis-Wirkungsbeziehung zu beschreiben; zum anderen liefert Phase 1 der klinischen Studien bereits erste Informationen über die wirkstoffspezifischen Parameter.
„Für unsere Methode müssen wir im Prinzip ein Extremwertproblem lösen“, sagt Holger Dette. „Im Grunde machen wir das Gleiche wie bei einer Kurvendiskussion in der Schule – nur mit anderen Funktionen. Die Funktionen haben dabei eine weitere wichtige Eigenschaft: Sie sind konkav.“ Um die Maximalstellen einer konkaven Funktion zu finden, bildet man ihre erste Ableitung und setzt diese gleich null. Die RUB-Mathematikerinnen und Mathematiker hantieren allerdings mit abstrakteren Funktionen als die Schulmathematik, aber das Prinzip ist ähnlich. Sie lösen ein unendlich dimensionales Extremwertproblem. Eine spezielle Versuchsanordnung beschreiben sie mithilfe einer Matrix.
Mit der neuen Bochumer Methode könnte man in Phase 2 der klinischen Studien potentiell eine genauere Schätzung der minimalen wirksamen Dosis erzielen als mit dem bislang eingesetzten Verfahren. Das klingt einfach, aber noch ist diese Mathematik nicht in der Praxis angekommen – dabei arbeitet Holger Dette bereits seit 2008 an dem neuen Verfahren. Für das Zögern gibt es zwei Gründe. „Das sind zum einen logistische Restriktionen“, erklärt er. „Bei dem bislang eingesetzten Verfahren nehmen die Testpersonen vielleicht zwei, drei oder sieben Tabletten. Mit unserem Verfahren rechnen wir aus, sie sollen 3,78 Tabletten nehmen.“ Die Methode haben Dette und Schorning mittlerweile erweitert, sodass sie logistische Restriktionen berücksichtigen können. „Es dauert trotzdem, bis sich so etwas durchsetzt“, weiß der RUB-Forscher. „Denn es ist nicht leicht, die Klinikerinnen und Kliniker davon zu überzeugen, das Altbewährte aufzugeben. Wir sagen zum Beispiel: Um die minimale wirksame Dosis zu finden, sollen sie nur drei verschiedene Dosisstufen testen, falls die Dosis-Wirkungsbeziehung mithilfe des EMAX-Modells beschrieben wird. Und sie sagen: Ja, aber vielleicht verwenden wir ja gar nicht das richtige Modell.“ Dette und Schorning haben ihr Verfahren daher weiterentwickelt und es so angelegt, dass es für eine große Klasse von möglichen Modellen funktioniert und nicht versagt, wenn man die falsche Dosis-Wirkungskurve zugrunde legt. Trotzdem muss die Skepsis erst einmal überwunden werden. „Denn wenn etwas schief geht, verursacht das natürlich riesige Kosten“, so Dette. Schließlich entscheidet am Ende nicht der Kliniker, ob das Medikament auf den Markt kommt oder nicht, sondern eine Behörde – in den USA die „Federal Drug Administration“, kurz FDA. Dette: „Wenn wir Glück haben, nimmt die FDA die Methode eines Tages in ihre Regeln auf.“ Dann könnten Ärztinnen und Ärzte sie einsetzen, ohne Sorge zu haben, dass die Behörde ihre klinischen Tests nicht akzeptiert.