Bauen, Einrichten & Versorgen

Was heißt Wohngesundheit? Bauen ohne Schadstoffbelastung: Architekten und Bauherren in der Pflicht

Interview mit Josef Spritzendorfer

19.12.2019 -

Völlig schafstofffrei zu bauen oder einzurichten ist illusorisch – dennoch gibt es die gesetzliche Pflicht, Gebäude gesundheitsverträglich zu errichten. Darauf weist Josef Spritzendorfer, Experte für Schadstofffragen im Bauwesen im Interview mit medAmbiente hin. Er betreibt die Online-Informationsplattform EGGBI (Europäische Gesellschaft für gesundes Bauen und Innenraumhygiene).   

Herr Spritzendorfer, die meisten Menschen gehen vermutlich davon aus, in einem „wohngesunden Gebäude“ zu wohnen – zumindest meint man in der Regel, dass es keine Schadstoffbelastung in der Wohnung oder im Haus gibt. Wie viele Leute in Deutschland irren sich da, Ihrer Erkenntnis nach?

Josef Spritzendorfer: Der Begriff Wohngesundheit wird heute sehr unterschiedlich interpretiert – meist geht man davon aus, dass es in einem wohngesunden Gebäude keine nennenswerten Schadstoffkonzentrationen gibt, die zu unmittelbaren gesundheitlichen Reaktionen führen. Bedauerlicherweise werden aber gerade die sehr vielfältigen Krankheits- Symptome bei Raumbelastungen meist nicht solchen zugeordnet – das sogenannte Sickbuilding- Syndrom wird in der Regel zahlreichen anderen ebenfalls möglichen Ursachen zugeschrieben wie Stress, Psychosomatik, Ernährung, Genetik, Infektionen, etc. Nur wenige Ärzte führen bei den typischen Erstbeschwerden durch Belastungen  aus Lösemitteln, Formaldehyd und anderen Stoffen (Kopf und Magenschmerzen, Entzündung der Bindehäute, Atemprobleme…)  umweltmedizinische Anamnesen zur Ermittlung möglicher raumluftrelevanter Auslöser durch. Noch weniger werden Langzeitfolgen beispielsweise aus Weichmachern, Flammschutzmitteln, PAKs, Holzschutzmitteln rechtzeitig diagnostiziert, um die verursachenden Materialien  entfernen zu können. Es ist daher davon auszugehen, dass die Dunkelziffer belasteter Räume durch Bau- und Bauhilfsstoffe, Boden- und Wandbeläge, Möbel, auch Elektrogeräte sehr hoch ist; natürlich ergeben sich gesundheitliche Folgen daraus hier sehr differenziert je nach Alter, genetischer Vorbelastungen, Immunsystem. In den meisten Fällen werden viele Belastungen bewusst gar nicht wahrgenommen und fühlen sich die Bewohner in den Räumen in keiner Weise unwohl – lediglich für besonders Sensitive können auch nur gering belastete Räume bereits völlig unbenutzbar sein.

Wie verhält es sich in Pflege- und Seniorenheimen und anderen Health-Care-Immobilien?

Josef Spritzendorfer: Hier ist zu berücksichtigen, dass es sich in der Regel um Bewohner handelt, die ohnedies bereits gesundheitliche Defizite, sehr oft auch bereits ein sehr geschwächtes Immunsystem aufweisen, und vorhandene Beschwerden durch mögliche Raumbelastungen noch wesentlich verstärkt werden. Dabei sind auch  sogenannte gesetzliche Grenzwerte, wie es sie für eine Reihe von Raumschadstoffen gibt, nicht mehr relevant, es genügen oft Niedrigstkonzentrationen toxischer oder allergenisierender Stoffe zu einer massiven Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes. Daher sollte gerade in solchen Einrichtungen besonders auf ein möglichst schadstoffreduziertes Umfeld geachtet werden.

Was sind denn die üblichen Verdächtigen, wenn es um Schadstoffe geht?

Josef Spritzendorfer: In Bestandsbauten handelt es sich sehr oft um Altlasten wie PAKs (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) aus alten Bitumenklebern, Holzschutzmittel, PCB aus früher verwendeten Dicht- und Fugenmassen, Asbest, daneben allgemeine Lösemittel, Konservierungsmittel, Weichmacher und Flammschutzmittel aus Wand- und Bodenbelägen, Formaldehyd aus alten Spanplatten und Möbeln, vielfach auch – oft nicht sichtbarer – Schimmel als Folge von Feuchteschäden, falscher Dämmung und unzureichender Lüftung. Aber auch in Neubauten finden sich sehr oft massiv erhöhte Belastungen durch Lösemittel (z. B. Glykole auch aus sogenannten lösemittelfreien Produkten, Isothiazolinone aus Farben Klebern und Lacken), Weichmacher und Flammschutzmittel auch aus aktuellen Bauprodukten und Bodenbelägen, Formaldehyd und Essigsäure vor allem aus Holzwerkstoffen, Schadstoffe aus Reinigungsmitteln.

Es geht dabei nicht nur um Menschen mit Allergien?

Josef Spritzendorfer: Natürlich reagieren manche Allergiker oft auf diese Stoffe sehr viel schneller, als diesbezüglich Unbelastete. Viele dieser Stoffe haben aber ein grundsätzlich toxisches Potential, das selbst für Gesunde ein massives Kurz- oder auch Langzeit-Risiko darstellen kann. Daher sollten solche Stoffe grundsätzlich immer möglichst minimiert werden. Völlig schafstofffrei zu bauen oder einzurichten ist ohnedies illusorisch – zu hoch sind inzwischen die technischen und auch rechtlichen  Anforderungen an die meisten Produkte im Hinblick auf Langlebigkeit, Pflegleichtigkeit, Brandschutz, Energieeffizienz, vereinfachte Verarbeitungsmöglichkeit für den Handwerker u.a., so dass Bauprodukte ständig mit neuen chemischen Komponenten, und dies sehr oft zu Lasten der gesundheitlichen Unbedenklichkeit, technisch optimiert werden.

Wie weit ist es bei der Fülle von Werkstoffen, mit denen unsere Umwelt gebaut und gestaltet ist, überhaupt möglich, vor jeweils vielleicht sehr seltenen unzuträglichen Ausdünstungen, etc.  zu schützen?

Josef Spritzendorfer: Mit einer sorgfältigen Produktauswahl ist es durchaus möglich, sehr emissionsarme, wohngesunde Gebäude zu errichten, was auch mit zahlreichen bestehenden, sorgfältig geplanten Projekten nachweisbar ist. Der Planer hat die Aufgabe, unter der Vielzahl der Produkte jene auszuwählen, die nachgewiesen die geringsten Emissionen mit sich bringen. Dazu bedarf es keineswegs neuer Normen, sondern vielmehr einer umfassenden Emissions- Deklaration für alle Produkte, um bei der Auswahl der Produkte eine echte Entscheidungshilfe zu erhalten. Derzeit verweigert aber ein Großteil der Hersteller wirklich umfassende und glaubwürdige Emissionsprüfberichte mit tatsächlichen Einzelstoff – Messwerten und damit die Voraussetzung, damit dem Planer die Möglichkeit zu bieten, abhängig von der Masse des jeweils eingebrachten Produktes (Raumbeladung) die späteren Auswirkungen auf die Innenraumluft auch nur abschätzen zu können. Bedauerlicherweise sind auch die meisten Gütezeichen hier keine große Hilfe – sie werden teilweise von den Herstellerverbänden selbst vergeben, die Kriterien betreffen oft nur Teilaspekte (z.B. nur Lösemittel und Formaldehyd). Nachhaltigkeitszertifikate sind zwar empfehlenswert im Interesse einer intakten Umwelt, sie beziehen sich aber in der Regel nicht auch auf die Gesundheitsverträglichkeit der damit ausgezeichneten Produkte oder Gebäude.

Wie ist es um die Informiertheit von Architekten, Innenarchitekten, Bauherren, etc. bestellt? Was empfehlen Sie zu tun, wenn es um die Auswahl von Materialien geht?

Josef Spritzendorfer: Hier muss ich bei Gastvorlesungen und Fachvorträgen immer wieder feststellen, dass „Wohngesundheit“ nach wie vor nur an wenigen Universitäten überhaupt im Ausbildungsplan vorgesehen ist. Vor allem aber ist Architekten, Bau­firmen sehr oft überhaupt nicht bewusst, dass sie durch bestehende Gesetze (Landesbauordnungen, MVV/TB) verpflichtet sind, ein gesundheitsverträgliches Gebäude zu errichten. Wir kennen Fälle, in denen existenziell vernichtende Schadensersatzforderungen an Architekten gestellt worden sind. Auch dauerhaft störende Gerüche können bereits solche Belästigungen darstellen. Dem Bauherrn ist zu empfehlen, bereits in der Ausschreibung wohngesundheitliche Anforderungen möglichst präzise zu definieren, von den Architekten und Baufirmen, von den Lieferanten der ausgewählten Produkte glaubwürdige Emissionsnachweise zu verlangen, und von den ausführenden Firmen einen ausschreibungskonformen Einsatz nur vorher bereits genau definierter Produkte zu fordern. Außerdem sollten sie vereinbaren, vor Übernahme eines Gebäudes oder Gewerkes eine entsprechend umfassende Raumluftprüfung durchzuführen und damit die Einhaltung der vorher definierten Zielwerte zu überprüfen.

Kontakt

Josef Spritzendorfer

Am Bahndamm 16
93326 Abensberg

+49 9443 700 169
+49 9443 700 171

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