BVMed-Hygieneforum im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020
14.12.2020 - Schmidtke: „Infektionsprävention muss im Fokus bleiben“
Eine gelebte Infektionsprävention ist auch nach der Corona-Pandemie notwendig und erfordert entsprechende Lösungen. Das sagte die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Dr. Claudia Schmidtke, auf dem 9. BVMed-Hygieneforum am 10. Dezember 2020. Das BVMed-Hygieneforum 2020 mit über 300 Online-Teilnehmern war Teil des assoziierten Programms des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020. Die Infektionsprävention müsse am Anfang aller Bemühungen stehen, so Dr. Alexandra Clarici vom BMG.
Die Corona-Pandemie macht nach Ansicht der Experten die Dringlichkeit eines effektiven Infektionsschutzes deutlich – unterstützt durch moderne digitale Lösungen. „Denn: Jeder Mensch hat das Recht, vor behandlungsassoziierten Infektionen in medizinischen Einrichtungen wie Kliniken, Praxen und Heimen geschützt zu werden“, so die Moderatoren Delia Strunz und Dr. Manfred Elff. „Ein großer Teil der behandlungsassoziierten Infektionen ist vermeidbar, vor allem durch bessere Hygiene. Wir brauchen klare Zielvorgaben und Maßnahmenpläne, um den Grundsatz ‚Prävention geht vor Behandlung‘ mit Leben zu füllen“, so BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll.
Die Moderatoren des Hygieneforums, Delia Strunz als Sprecherin des BVMed-Fachbereichs „Nosokomiale Infektionen“ (FBNI) sowie Dr. Manfred Elff, stellvertretender BVMed-Vorstandsvorsitzender, wiesen darauf hin, dass nach Schätzungen jedes Jahr alleine 800.000 postoperative Wundinfektionen (Surgical Site Infections, SSI) in Europa auftreten. Sie verursachen alleine in Deutschland zusätzliche Kosten für das Gesundheitssystem je Fall in Höhe von 22.900 Euro. In einem Positionspapier zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 spricht sich der BVMed deshalb für das Ziel aus, 20 Prozent der behandlungsassoziierten Infektionen in den nächsten 5 Jahren zu vermeiden. Infektionsprävention sollte ein Schwerpunktthema auf der Agenda der EU-Kommission sein. Für adäquate Infektionsprävention sollten zudem ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen.
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Dr. Claudia Schmidtke, betonte die Bedeutung von Hygienemaßnahmen für eine effektive Infektionsprävention. Das habe die Corona-Pandemie verdeutlicht. „Gelebte Infektionsprävention muss weiterhin im Fokus der Einrichtungen und der Politik stehen“, so Schmidtke. Jedes Jahr gebe es in Deutschland zwischen 10.000 und 15.000 Todesfälle durch nosokomiale Infektionen. „Diese Zahl kann und muss deutlich niedriger sein, denn mindestens jede dritte Infektion gilt als vermeidbar. Wir müssen vor allem auch Antibiotika-Resistenzen vorbeugen.“ Als Maßnahmen der Bundesregierung zur Infektionsprävention nannte Schmidtke die Empfehlungen der KRINKO, das Hygiene-Förderprogramm seit 2013 mit mehr Personal, Fortbildung und Beratung sowie die Antibiotika-Resistenz-Strategie (DART) als nationalen Aktionsplan.
Dr. Nicole Steinhorst, Director Business Line Antisepsis bei Schülke & Mayr, stellte die BVMed-Initiative „Nosokomiale Infektionen“ zur Visualisierung von Krankenhausinfektionen samt Präventionsmaßnahmen vor. Die vom Fachbereich kostenfrei zur Verfügung gestellten Informationsmaterialien sollen dabei helfen, die Entstehung von nosokomialen Infektionen zu verdeutlichen und damit zu ihrer Vermeidung beitragen. Kernstück ist die Webseite www.rechtaufhygiene.de. Sie enthält unter anderem Informationen und Grafiken zu den Themen Gefäßkatheter-assoziierte Infektionen, postoperative Wundinfektionen, Atemwegsinfektionen, Harnwegsinfektionen, infektiöse Darmerkrankungen (Norovirus) und Multiresistente Erreger (MRE). Ein besonderes Angebot ist das anschauliche Grafikmaterial, das für Präsentationen oder Schulungen kostenlos heruntergeladen werden kann. Zum Angebot gehört eine umfangreiche Sammlung von Piktogrammen für Präsentationen und Schulungsmaterial, das in Zusammenarbeit mit dem Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Charité in Berlin erarbeitet wurde.
Dr. Frieder Pfäfflin, Oberarzt an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité, schilderte den Umgang seiner Klinik mit COVID-19 aus der Sicht eines Infektiologen. Er betonte, dass zwischen dem COVID-Bereich, dem Verdachtsfall-Bereich und den Nicht-COVID-Bereichen eine strikte räumliche Trennung im stationären Bereich erfolge. In der ersten Welle wurden zusätzliche personelle Kapazitäten bereitgestellt, elektive Operationen verschoben und Dienstreisen untersagt. Es gab tägliche virtuelle Sitzungen des Pandemiestabs, Abstrichstellen für Patienten und Mitarbeiter sowie eine Nachverfolgung von Kontakten bei positiven Fällen. Außerdem hat die Charité zahlreiche Verfahrensanweisungen erstellt. Die aktuelle zweite Welle ist deutlich heftiger. „Wir gehen auf dem Zahnfleisch“, so Pfäfflin. Schwerstkranke COVID-Patienten sind extrem personalintensiv. Die Eröffnung weiterer Intensivbetten erfordert daher eine noch stärkere Einschränkung in Non-COVID-Bereichen. Die Personalknappheit wird durch zunehmende Infektionen innerhalb des Personals verstärkt. Die Arbeitsüberlastung des Personals nimmt zu, da derzeit auch kein Ende der Welle absehbar ist. „Wir hoffen sehr auf weitere politische Vorgaben.“
Prof. Dr. Wulf Schneider, Leiter der neu eingerichteten Abteilung Krankenhaushygiene und Infektiologie am Universitätsklinikum Regensburg, schilderte aktuelle Herausforderungen im Hygienemanagement. In Bezug auf die digitale Ausstattung „sind wir in der Krankenhaushygiene nicht Krankenhaus 4.0, sondern 1.0-Betaversion“. Alle erforderlichen Daten für die Infektionskontrolle seien zwar als digitale Datensätze im KISS-System des Krankenhauses verfügbar, allerdings unverbunden oder in verschiedenen Programmen. Es gebe noch zu viel Handarbeit und zu wenige digitale Tools, beispielsweise bei Stationsbelegungen und Patientenverlegungen. „Wir brauchen künftig für das klinische Hygienemanagement sämtliche Patientenbewegungen in einer Echtzeit-Analyse“, so Schneiders Forderung. „Hygiene 4.0 bedeutet, alle notwendigen Datensätze in Echtzeit und mit unterschiedlicher Fragestellung visualisieren zu können!“
Dr. Alexandra Clarici vom Referat „One Health & Antimikrobielle Resistenzen“ des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) stellte die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie (DART) vor. Die Strategie wurde im Mai 2015 vom Bundeskabinett verabschiedet. „DART 2020“ bündelt Maßnahmen, die zur Reduzierung von Antibiotika-Resistenzen erforderlich sind. Dabei steht die sektorübergreifende Zusammenarbeit (One-Health-Ansatz) im Vordergrund, so Clarici. „Die Eindämmung der Entstehung und Ausbreitung von Antibiotika-Resistenzen kann nur sektorenübergreifend erfolgen.“ Um diesem One-Health-Ansatz gerecht zu werden, adressieren alle Ziele der DART 2020 Human- und Veterinärmedizin gleichermaßen. Um Therapie- und Hygieneempfehlungen laufend an die aktuelle Situation anpassen und gezielte Präventionsstrategien entwickeln zu können, sind repräsentative Daten zum Auftreten von neuen Erregern und Resistenzen erforderlich. Die Vermeidung von Infektionen ist dabei die wichtigste Maßnahme zur Verringerung des Antibiotika-Verbrauchs. Das DART-Projekt soll für weitere 10 Jahre durchgeführt werden. Dabei ist eine stärkere Einbindung von Fachgesellschaften, Verbänden und Bundesländern vorgesehen.
Wolfgang Philipp, Referatsleiter Gesundheitssicherheit und Impfschutz bei der Europäischen Kommission, schilderte das Management von Pandemien und Gesundheitskrisen in Europa. Das Gesundheits-Krisenmanagement wird auf EU-Ebene vom „Health Security Committee Communicators’ Network“ koordiniert, in dem jeder EU-Staat vertreten ist. Die EU verfügt über ein Frühwarnsystem, um die Mitgliedsstaaten frühzeitig zu informieren. Außerdem wurde bei COVID-19 zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine „gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite“ ausgerufen, um Empfehlungen und Richtlinien zu erarbeiten. Wichtig sind dabei die Verhandlungen von Rahmenverträgen zur gemeinsamen europäischen Beschaffung erforderlicher Medizinprodukte und Arzneimittel, so Philipp. Problematisch sei es dann, wenn von einzelnen Staaten die Rahmenvereinbarungen nicht genutzt werden oder nationale Alleingänge beispielsweise bei Grenzschließungen erfolgen. „Wir haben in der Krise gelernt, was alles nicht gut funktioniert – und wie wir auf EU-Ebene stärker koordinierend wirken müssen“, so Philipp.
Im Rahmen des BVMed-Hygieneforums gab es zahlreiche Berichte aus der Praxis des Hygienemanagements und der Infektionsprävention.
Prof. Dr. Christine Geffers, Oberärztin am Nationalen Referenzzentrum für die Surveillance von nosokomialen Infektionen der Charité, stellte die aktualisierte KRINKO-Empfehlung „Surveillance von nosokomialen Infektionen“ aus diesem Jahr vor. Sie richtet sich an die Leiter und das Hygienefachpersonal von Krankenhäusern, aber auch Einrichtungen für ambulantes Operieren sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mit vergleichbarer medizinischer Versorgung. Die Empfehlung gibt eher allgemeine Hinweise mit der Möglichkeit einer individuellen Umsetzung. Neben der Beachtung gesetzlicher Vorgaben sollte die KISS-Methode als Grundlage dienen: Gemeint ist damit das „Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System“. Dazu gehören die Bereitstellung risikoadaptierter Methoden zur Surveillance in relevanten Bereichen, die Bereitstellung der für das Datenmanagement notwendigen Software, die Bereitstellung von Referenzdaten sowie das nationale Netzwerk von stationären und ambulanten Einrichtungen im Gesundheitswesen.
Hygienefachkraft Cordula Arnhold vom Evangelischen Krankenhaus Paul-Gerhardt-Stift in Wittenberg, stellte das Konzept der „Link Nurse“ als Bindeglied zwischen dem Hygienefachpersonal und den einzelnen Pflegeteams vor. Die „Link Nurse“ ist als „Verbindungs-Krankenschwester“ Ansprechpartner für alle an der Patientenversorgung Beteiligten und erhält von der Geschäftsführung eine Ernennungsurkunde. Jede Station und jeder Funktionsbereich hat mindestens einen Ansprechpartner. Sie werden regelmäßig geschult und kommen zehnmal im Jahr zum Informationsaustausch zusammen. Außerdem gibt es ein System von „Hygienebeauftragen Ärzten“, die eine zusätzliche Fortbildung erhalten.
Ein Projekt für mehr Hygiene bei der Prostata-Biopsie durch eine automatisierte Aufarbeitung der Ultraschallsonden stellte PD Dr. Andreas Maxeiner, Oberarzt für Urologie am interdisziplinären Ultraschallzentrum der Charité, vor. Das Projekt, das eine Auszeichnung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit erhalten hat, erhöht die Patientensicherheit im urologischen Alltag. Die manuelle Wischdesinfektion ist oft der Standard, eine Prozessvalidierung ist dabei aber nicht möglich. Der automatisierte Reinigungs- und Desinfektionsprozess der Sonden mit Wasserstoffperoxid kann mit einem validierten Verfahren in 7 Minuten durchgeführt werden.
Dr. Corinna Glasner vom Lehrstuhl für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene der Universität Groningen präsentierte das grenzüberschreitende Projekt health-i-care, das 2016 im deutsch-niederländischen Grenzbereich startete. In der Grenzregion wurden in den letzten Jahren zahlreiche innovative Produkte und Technologien zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionen entwickelt. Im „Health-i-Care“-Projekt arbeiteten über 50 Partner in der Grenzregion an über 30 Projekten. So wurden beispielsweise auch Tools für die Aufklärung und Infektionsprävention mit und für Kinder erstellt.
Eine digitale Lösung zur Implementierung einer Bündelstrategie zur Vermeidung von Infektionen stellte Prof. Dr. Markus Golling, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Diakoneo-Klinikum Schwäbisch Hall, aus dem Bereich der Wundinfektionen vor. Seine Klinik setzt das cloudbasierte Software-System „SOPHIA – SOP Healthcare Information Assistant“ von B. Braun ein. Mit einer standardisierten Abfrage von einzelnen Prozess-Schritten im OP konnte mit einer digitalen Checkliste die Compliance der Akteure zur Prävention von postoperativen Wundinfektionen verbessert werden.
Christoph Lassahn, Leitender Krankenhaushygieniker der DIAKOVERE-Krankenhäuser Hannover, und Dr. Heide Niesalla, Leiterin des Bode Science-Centers in Hamburg, stellten mit „My Hygiene SOP“ eine digitale Lösung zum Hygienemanagement in Kliniken vor. Die App-Lösung zur Prozessbeobachtung und -dokumentation unterstützt die Kliniken bei der Einführung von Versorgungspfaden und Standard-Arbeitsanweisungen (SOPs). Ziel ist die Standardisierung von Prozessen zur Qualitätssicherung und eine Erhöhung der Patientensicherheit durch digitale Unterstützung. Durch eine visuelle Abbildung der Arbeitsabläufe können die Pflegekräfte und das ärztliche Personal die Hygieneempfehlungen deutlich besser umsetzen. Die vorgegebenen SOPs können dabei an die hausinternen Standards angepasst und erweitert werden.
Alle Vorträge des BVMed-Hygieneforums können unter www.rechtaufhygiene.de/hygieneforum-2020 abgerufen werden.
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