Ernstes Versorgungsproblem - Der Bedarf an stationären Pflegeplätzen steigt weiter
Im Gespräch mit Markus Bienentreu
Allein um das aktuelle Versorgungsniveau zu halten, müssen nach Auffassung des Unternehmens bis 2040 rund 2.170 neue stationäre Pflegeplätze geschaffen werden. Angesichts der hohen Grundstückspreise sei der dafür erforderliche Zubau jedoch nicht annähernd in Sicht.
„Die Nachfrage nach Pflegeplätzen in Stuttgart ist schon jetzt größer als das Angebot, es gibt lange Wartelisten, viele Pflegebedürftige finden keinen Platz“, sagt Terranus-Geschäftsführer Markus Bienentreu. Zur Verschärfung beigetragen habe auch die Umwandlung von Doppel- in Einbettzimmer, die die Landesheimbauverordnung seit 2019 vorschreibt. Dadurch habe sich das Angebot in Stuttgart weiter verknappt.
Gleichzeitig wachse laut Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamts die Altersgruppe 65+ in Stuttgart um rund 50 Prozent. Allein um das aktuelle Versorgungsniveau zu halten, müssten in Stuttgart bis zum Jahr 2040 rund 2.170 zusätzliche Pflegeplätze geschaffen werden. Bei einer aktuellen Bettenzahl von rund 5.390 entspreche dies einem Zubau von etwas über 40 Prozent. „Konkret bedeutet das, in Stuttgart müssen in den nächsten 20 Jahren mindestens 22 neue Pflegeheime gebaut werden“, so Bienentreu.
Dabei liege Stuttgart beim Versorgungsgrad, d.h. dem Anteil der über 65-Jährigen, der in Pflegeheimen versorgt wird, mit 4,89 Prozent im Mittelfeld, etwa gleichauf mit Berlin (4,84 Prozent). In anderen Städten sei der Versorgungsgrad deutlich höher, etwa in Hamburg (5,28 Prozent) oder Hannover (6,17 Prozent). Insgesamt sei jedoch damit zu rechnen, dass der Versorgungsbedarf künftig eher steige.
Herr Bienentreu, Sie haben kürzlich regelrecht Alarm geschlagen, was die Stuttgarter Versorgung mit Pflegeplätzen betrifft. Bis 2040 seien 22 neue Pflegeheime nötig. Ist Stuttgart typisch für Deutschland insgesamt?
Markus Bienentreu: Ja. Die Auslastung stationärer Pflegeheime liegt bundesweit bei 92,3 Prozent. Das bedeutet wir sind schon jetzt im Durchschnitt nahe der Vollauslastung. In den nächsten Jahren wird der Bedarf aus demografischen Gründen massiv steigen. Somit bekommen wir fast überall einen Mangel an Pflegeplätzen. Lediglich die Ausprägung des Mangels kann sich regional unterscheiden.
Sie erstellen seit einiger Zeit den „Bedarfskompass“ – wie sieht der genau aus und was fließt hier alles an Daten ein?
Markus Bienentreu: Unser „Bedarfskompass“ ist ein Prognosetool zur Bestimmung des Pflegeheim-Bedarfs in deutschen Großstädten. Wir berechnen darin auf Grundlage der Bevölkerungsentwicklung und dem bestehenden stationären Pflegeangebot den statistischen Bedarf an Pflegeplätzen für die Zukunft. Auch der regionale Versorgungsgrad und die Kaufkraft fließen in die Prognose mit ein. Die Prognosen für die Städte Hamburg, Berlin, München, Köln, Hannover und Stuttgart liegen bereits vor, sukzessive wird der Bedarfskompass die zehn größten Städte Deutschlands abdecken.
Sie sagen, dass die Babyboomergeneration die ganze Situation noch verstärken wird – warum...?
Markus Bienentreu: Das liegt an einer demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung: Die Babyboomer sind schlichtweg sehr viele. Wenn sie in den nächsten Jahrzehnten in die Alterskohorte der Hochbetagten aufrücken, wird auch die Nachfrage nach Pflege deutlich steigen. Hinzu kommt, dass in dieser Generation die Pflege innerhalb der Familie eher die Ausnahme sein wird: Die Babyboomer haben weniger Kinder, die zudem häufig woanders leben als ihre Eltern. Der Versorgungsgrad, also der Anteil derjenigen, die stationär versorgt werden, dürfte also eher noch steigen. Weil gleichzeitig die Gesamtbevölkerung und vor allem die Zahl der erwerbsfähigen schrumpft, steht uns eine immense Aufgabe bevor.
Es gibt derzeit ja billiges Geld – andererseits sind Grundstücke knapp und teuer...?
Markus Bienentreu: Das stimmt, und auch die Baukosten steigen. Betrachtet man die Entwicklung der Investitionsfolgekosten am Pflegesatz, stellt man fest, dass diese nicht mit der Preisentwicklung im Bau Schritt gehalten haben. Das bedeutet auch, dass sich die Mieten für Pflegeeinrichtungen unterproportional entwickelt haben. Insofern wird es nicht einfacher, neue Pflegeheime zu bauen.
Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle für diese Situation?
Markus Bienentreu: Eine Rolle spielen auch die gestiegenen gesetzlichen Anforderungen an das Raumprogramm, z.B. Einbettzimmerquoten oder Anforderung an mehr Gemeinschaftsflächen oder Barrierefreiheit. Damit steigt die benötigte Fläche pro Pflegeplatz. Auch die technische Ausstattung wird anspruchsvoller, etwa in Bezug auf Brandschutz oder Internet-Ausstattung. Durch diese Entwicklung entstehen Zusatzkosten, die zu den ohnehin gestiegenen Baukosten noch dazukommen. Der wirtschaftliche Bau von Pflegeeinrichtungen ist nur noch über niedrigere Renditen möglich.
Folgt daraus ein Ausweichen aufs Land?
Markus Bienentreu: Aufs Land nicht unbedingt. Geeignete Standorte für Pflegeeinrichtungen brauchen eine Anbindung und Infrastruktur. Sofern die Grundstückskosten nicht refinanziert werden, wird es aber zumindest ein Ausweichen in die Peripherie geben. Dies kann man seit Jahren am Beispiel München beobachten, wo sehr viele Pflegeeinrichtungen im Speckgürtel entstanden sind.
Wie sollen die Kommunen mit diesem Problem umgehen?
Markus Bienentreu: Eine Möglichkeit wäre es Grundstücke mit der Zweckbestimmung eines Pflegeheims auszuweisen und diese eventuell auch preislich zu subventionieren.
Das wäre auch ein Steuerungsinstrument für Kommunen, um die räumliche Ansiedlung von Pflegeeinrichtungen in der Stadt zu beeinflussen.
Sie beraten ja Investoren in Gesundheitsimmobilien. Wie stellt sich für sie die Lage dar?
Markus Bienentreu: Aufgrund der stabilen und langfristig steigenden Nachfrage sind Gesundheits- und vor allem Seniorenimmobilien weiterhin ein gutes Investment. Die Nachfrage ist hoch und übersteigt derzeit das Angebot. Immer mehr Investoren versuchen deshalb auch auf alternative Seniorenwohnformen auszuweichen, z.B. Betreutes Wohnen in Kombination Tagespflege und ambulant betreuten Wohngruppen. Der Markt wird sich weiter diversifizieren.