Sepsis: Mehr oder weniger Antibiotika geben?
17.11.2021 - Die Dosierung von Antibiotika kann bei Sepsis über Leben und Tod entscheiden. Welche die passende ist, soll Künstliche Intelligenz herausfinden helfen.
Das Fieber steigt, der Blutdruck sinkt – dem Sepsispatienten auf der Intensivstation geht es zusehends schlechter. Was tun? Mehr Antibiotika geben, um die bakterielle Infektion besser zu bekämpfen? Oder die Dosis reduzieren, um die ohnehin schon angegriffenen inneren Organe nicht noch weiter zu belasten und ein Organversagen zu vermeiden? Ärzte müssen in dieser Situation Entscheidungen treffen, die überlebenswichtig sind. Dabei können sie sich oft auf nichts als ihre Erfahrung stützen. „Es gibt Situationen, da könnte man ebenso gut würfeln“, spitzt Prof. Dr. Barbara Sitek zu. Die Proteinforscherin am Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus der Ruhr-Universität Bochum (RUB) leitet das Projekt „Digisept“, das den Behandelnden eine Entscheidungshilfe geben will.
Wieviel Wirkstoff ist im Blut?
Im Zentrum steht die Frage, ob es mittels künstlicher Intelligenz (KI) gelingt, die Wirkstoffkonzentration im Blut von Patienten anhand von anderen Daten wie Blutdruck oder Körpertemperatur vorherzusagen. „Man kennt in etwa die notwendige Antibiotikakonzentration, die ausreicht, um Bakterien zu beseitigen“, erklärt Sitek. „Was man aber nicht weiß, ist, wie sich diese Konzentration beim einzelnen Individuum nach der Gabe des Medikaments entwickelt. Wie schnell wird der Wirkstoff beispielsweise abgebaut? Das variiert schon zwischen gesunden Menschen erheblich. Die Unterschiede sind noch größer bei Menschen mit einer Sepsis, die den ganzen Organismus beeinträchtigt.“
Erster Schritt ist daher die regelmäßige Bestimmung nicht nur der Konzentration des Antibiotikums, sondern auch seiner Abbauprodukte im Blut von Sepsispatienten mittels Massenspektrometrie. „Da wir aus der Proteinforschung kommen, ist die Analyse der Metaboliten von Wirkstoffen für uns herausfordernd“, erklärt Sitek. „Sie ist aber unbedingt notwendig, um die exakte Situation zu erfassen.“ Ein solches therapeutisches Drug Monitoring ist sehr aufwändig, weswegen nur wenige Zentren in Deutschland es überhaupt durchführen. Ein hochauflösendes Massenspektrometer kann Sitek dank einer Förderung im Rahmen des REACT-EU-Ausstattungsprogramms zur Förderung der Digitalisierung in der klinischen Medizin- und Gesundheitsforschung des Landes NRW eigens anschaffen. Proben von 500 Sepsispatienten zu drei Zeitpunkten ihrer Behandlung wurden bereits im Projekt SepsisDataNet.NRW gesammelt und können als Trainingsdatensatz ausgewertet werden. Bei diesem Verbundprojekt konnten durch die enge Zusammenarbeit der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie des Universitätsklinikums Knappschaftskrankenhaus Bochum (Leitung Prof. Dr. Michael Adamzik) und des Medizinischen Proteom-Centers (Leitung Prof. Dr. Katrin Marcus) vielversprechende Ergebnisse zum Thema Sepsis erzielt werden. Das Medizinische Proteom-Center ist Teil des Zentrums für Proteindiagnostik der RUB am Bochumer Gesundheitscampus.
Vorhersagen für kritische Situationen
Im zweiten Schritt kommen die Informationen des Patientendatenmanagements ins Spiel, die auf Intensivstationen regulär ständig ermittelt werden. Dazu gehören z.B. Blutdruck, Laktatwert, der pH-Wert und die Sauerstoffsättigung des Bluts oder die Körpertemperatur. Diese Daten setzt ein lernender Algorithmus mit den Ergebnissen der Massenspektrometrie in Beziehung und leitet daraus Gesetzmäßigkeiten ab. „Wir nutzen dafür seit Jahrzehnten weiterentwickelte Algorithmen und passen sie an unsere Bedarfe an“, erklärt Dr. Martin Eisenacher, Bioinformatiker am Medizinischen Proteom-Center der RUB, der mit Barbara Sitek bereits in vielen Projekten eng zusammenarbeitet. Mit der Methode des Machine Learning berechnet die KI die Zusammenhänge zwischen Wirkstoffkonzentration im Blut und anderen Patientendaten. „Dabei müssen wir darauf achten, dass es zu keiner Überanpassung des Algorithmus kommt, er also nicht etwa lernt, ein Rauschen zu erkennen, oder die Ergebnisse auf andere Art verfälscht“, erklärt er.
Ob es sich bei den erkannten Zusammenhängen um Ursachen oder Folgen einer Entwicklung im Verlauf der Erkrankung handelt, kann die KI nicht erhellen. „Darauf kommt es aber auch nicht an“, so Eisenacher. Was sie könnte, ist Vorhersagen treffen, die zu einer Therapieempfehlung führen. Herauskommen könnte dabei z.B.: Steigt die Körpertemperatur des Patienten an und sinkt sein Blutdruck, deutet das darauf hin, dass der Antibiotikaspiegel in seinem Blut zu niedrig ist. Daher sollte die Dosis erhöht werden.
Krankheiten behandeln, ohne Patienten zu schädigen
Sollte sich bestätigen, dass solche Vorhersagen möglich sind, müsste den Patienten nur noch hin und wieder zur Kontrolle Blut entnommen werden, das massenspektrometrisch untersucht wird. Ärzte hätten in kritischen Situationen eine Entscheidungshilfe, die auf der Erfahrung mit Hunderten Patientendaten beruht. Dafür wären nur die Informationen notwendig, die ohnehin schon erhoben werden. „Das KI-Modell ist auf alle Intensivstationen mit Patientendatenmanagementsystem übertragbar und könnte nach einer Erprobungsphase implementiert werden“, so Eisenacher.
„Wir konzentrieren uns in der Studie zunächst auf die am häufigsten bei Sepsis verabreichten Antibiotika“, sagt Sitek. „Sollten wir erfolgreich sein, wäre unser Konzept aber auf verschiedenste Medikamente und Erkrankungen übertragbar.“ Sie denkt beispielsweise an Wirkstoffe gegen Tumorzellen, die zwar hoch genug dosiert werden müssen, um den Krebs zu bekämpfen, jedoch in zu hoher Dosierung auch gesunde Körperzellen und somit den Patienten schädigen können.
Info Sepsis
Jeden Tag sterben in Deutschland im Durchschnitt 162 Menschen an einer Sepsis. Damit steht die meist durch Bakterien hervorgerufene Erkrankung an dritter Stelle der häufigsten Todesursachen. Betroffen sind alle Altersgruppen, selbst Kinder. Entscheidend für das Überleben der Betroffenen ist die Behandlung mit wirksamen Antibiotika gegen den Erreger. Dabei kommt es sehr auf die Dosierung an: Wird der Wirkstoff unterdosiert, kann er die Infektion nicht eindämmen. Zu hohe Dosen jedoch bergen das Risiko für schwere Organschäden.
Autor: Meike Drießen, Bochum
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