Europäische Gesundheitssysteme neu denken
03.03.2023 - 2030 werden in Deutschland voraussichtlich sechs Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. 2050 werden es Schätzungen zufolge fast zehn Millionen sein. Gleichzeitig fehlen dann voraussichtlich bis zu 7.000 Ärzte und etwa 500.000 Pflegende.
So wie Deutschland blicken nahezu alle europäischen Länder auf eine große Herausforderung: eine alternde Bevölkerung, die mehr medizinischer Betreuung bedarf, bei gleichzeitigem Fachkräftemangel und steigenden Kosten durch medizinischen Fortschritt. An der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben führende europäische Universitätsklinika, zusammengeschlossen in der EUHA, und Vertreter internationaler Institutionen einen Prozess angestoßen, der Lösungen für die Zukunft der Gesundheitssysteme finden soll.
„Rethinking European Healthcare Systems“ – europäische Gesundheitssysteme neu denken – lautet die Überschrift eines Expertenworkshops an der Charité. Mit nicht weniger als diesem Ziel sind führende Köpfe von zehn europäischen Universitätsklinika, seit 2017 verbunden in der European University Hospital Alliance (EUHA), mit internationalen Akteuren des Gesundheitssektors zusammengekommen – unter ihnen Verantwortliche der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) und Gesundheitsexperten der Europäischen Kommission. Gemeinsam wollen sie nachhaltige Lösungen für die stetig steigenden Anforderungen in der Gesundheitsversorgung finden und erörtern, welche Rolle die Universitätsmedizin im Zuge des gesellschaftlichen Wandels dabei einnehmen kann. Zwar unterscheiden sich die europäischen Gesundheitssysteme im Einzelnen, dennoch stehen die Mitglieder der EUHA beim Blick in die Zukunft vor ähnlichen Herausforderungen. Darunter sind der Umgang mit einem erheblichen Mangel an Fachpersonal und die Frage, wie künftig Mediziner und Personal in Gesundheitsberufen bestmöglich ausgebildet werden.
Innovation und neue Arbeitsweisen
Alternde Gesellschaften, kulturelle Veränderungen und komplexe, wenig flexible Finanzierungsmodelle gelten als wesentliche Ursachen des derzeitigen Arbeitskräftemangels im Gesundheitssektor. Die Pandemie und die darauffolgende Energie- und Finanzkrise haben die Situation für Fachkräfte zusätzlich verschlechtert. Wie sich europäische Gesundheitssysteme neu aufstellen können, welche Instrumente bereits gut funktionieren und welche Rolle Universitätsklinika bei der Bewältigung des Arbeitskräftemangels übernehmen können, dazu kamen die Fachexperten der EUHA und weiterer internationaler Organisationen heute erstmalig zusammen. Ihr Fazit: Die bisherigen Strategien genügen nicht, ein grundlegendes Umdenken ist notwendig. „Steigende Anforderungen an die Gesundheitsversorgung, verschärft durch einen zunehmenden Fachkräftemangel, können nicht allein durch Anwerbungs- und Bindungsstrategien bewältigt werden“, sagt Prof. Dr. Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité. In seinen Augen bedarf es eines strukturelleren Ansatzes, der darauf ausgerichtet ist, das europäische Gesundheitsmodell neu zu denken. „Ganz essenziell wird dabei das Vermeiden von Krankheiten sein, mit einem neuen gesamtgesellschaftlichen Fokus auf Prävention und Gesunderhaltung der Menschen in allen Bereichen. Gleichzeitig müssen wir technologische und digitale Innovationen gezielt zur Entwicklung neuer Arbeitsweisen im Gesundheitswesen und innovativer Ausbildungsprogramme für zukünftige Gesundheitsfachkräfte nutzen. Auch angepasste Vergütungssysteme, neue Versorgungsnetze für Stadt und Land, telemedizinische Ansätze und der Zugang und Austausch von medizinischen Daten im europäischen Gesundheitsraum sind wichtige Instrumente, die wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern voranbringen müssen.“
Gemeinsame Ansätze für Prävention und Ausbildung
Die Gesundheitssysteme in Europa müssen sich auf lange Sicht anpassen, um zu bestehen. Schon jetzt stellen Universitätsklinika die Weichen dafür. In gemeinsamen Forschungsprojekten und Arbeitsgruppen entwickeln die EUHA-Partner beispielsweise neue Ansätze für Zell- und Gentherapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs) zur Behandlung von Krebspatienten. Auch erarbeiten sie gemeinsame Strategien und Programme für die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften und sind aktiv an der Entwicklung des European Health Data Spaces beteiligt. „Die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit in Gesundheitsthemen hat sich in der Hochphase der Pandemie besonders deutlich gezeigt. Der direkte, unkomplizierte und vertrauensvolle Austausch mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen war essenziell zur Bewältigung der Krise. Diese Erfahrung müssen wir nutzen und die Zusammenarbeit weiter ausbauen, denn der Fachkräftemangel, die Auswirkungen des Klimawandels oder Arzneimittelresistenzen sind Herausforderungen, die wir nur gemeinsam meistern können“, fasst Dr. Claire Mallinson, Bildungsdirektorin von King's Health Partners, die Relevanz des Expertenworkshops in Berlin zusammen, wo sie die Londerner Universitätsmedizin vertritt.
Auf die Zusammenkunft werden weitere Treffen folgen. Während der diesjährigen EUHA-Präsidentschaft der Charité von Juni bis November werden Themen wie die Entwicklung gemeinsamer Präventions- und Innovationsansätze sowie die Ausgestaltung neuer Berufsbilder im Gesundheitswesen und die Weiterentwicklung der medizinischen Ausbildung in Europa weiter im Fokus stehen.