Der Weg zum Krankenhaus der Zukunft
19.03.2018 -
„Medizinzentren planen, errichten & betreiben“ war das Motto der hospitalconcepts in Lübeck. Mit der Frage, was das Krankenhaus 4.0 ausmache, beschäftigten sich u.a. das Fraunhofer-Institut und Porsche Consulting.
Thomas Mironiuk, Hagen
„Krankenhaus 4.0 ist“, zumindest für Marcus Hintze vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, „die Digitalisierung und Vernetzung von Behandlungs- und Versorgungsprozessen im Krankenhaus mit Hilfe von cyber-physischen Systemen und dem Internet der Dinge und Dienste als Unterstützungssystemen, bis hin zur dezentralen Steuerung und Entscheidungsfindung.“ Eine notwendige Klarstellung, denn mit dem Begriff fremdelt das Gesundheitswesen noch.
Fragt man Dr. Karsten Hiltawsky, den Leiter der Forschung der Drägerwerk AG, „gibt es Krankenhaus 4.0 als Buzzword noch gar nicht.“ Es wäre lediglich der Versuch, das Konzept von Industrie 4.0 auf Krankenhäuser zu übertragen. Für ihn sind „Krankenhäuser in vielen Aspekten von 4.0 aber weiter als die Industrie.“ So hätten sie inzwischen intelligente Werkstücke, auch bekannt als Patienten, und Losgrößen von eins wären der Standard und nicht ein Ziel.
Dennoch gibt es für Hintze eine Reihe von Ansätzen, die die Nomenklatur rechtfertigen. Zum einen die Mensch-Maschine-Interaktion und die Verbindung von Dingen und Diensten über das Internet. Aber auch die Möglichkeit, cyber-physische Systeme bei der Unterstützung der Behandlung und Koordination von Patienten einzusetzen. Potential sieht man beim Fraunhofer-IML auch bei der Steuerung von Behandlungswegen und dem Umgang mit Individualisierungsgraden.
Neben den bekannten Treibern hinter den notwendigen Veränderungen in Krankenhäusern - Fachkräftemangel, dem demografischen Wandel mit einhergehender Multimorbidität der Patienten und Trends, wie der weiteren Ambulantisierung und den steigenden Qualitäts- und Dokumentationsanforderungen - sieht man beim IML allerdings noch einen weiteren Faktor, der in den Überlegungen bislang nicht auftauchte: die Autonomisierung von Technik und Menschen.
Diese sei eine der Folgen der Digitalisierung und neuer Steuerungsansätze hin zur Dezentralisierung von Entscheidungen. Die voranschreitende Digitalisierung und Autonomisierung von Technik und Mensch bilden das Grundgerüst der Zukunftsvision des IML für das Krankenhaus 4.0.
Dass es sich dabei um eine durchaus realistische Einschätzung handelt, belegt eine Studie von Porsche Consulting. So würden sich schon heute 74% der Befragten von einem Roboter operieren lassen. Ein Drittel würde es ohne weiteres tun, weitere 41% wären dazu bereit, wenn sich die Risiken der OP dadurch senken würden. Lediglich 23% der Bundesbürger lehnen Roboter-OPs derzeit komplett ab.
Ein Grund für die breite Akzeptanz solcher Behandlungsmethoden dürfte darin liegen, dass die Autonomisierung von Technik in vielen anderen Bereichen bereits Alltag ist oder mit Macht auf dem Vormarsch. Ob beim Börsenhandel oder der zivilen Luftfahrt, autonome Systeme erledigen den Job inzwischen schneller und sicherer, als es Menschen je könnten. Und mit der Einführung selbstfahrender Kraftfahrzeuge werden solche Systeme demnächst auch Einzug in jedermanns Alltag halten.
2016 stellten US-Forscher in der Fachzeitschrift Science ein System vor, das nahezu selbstständig zwei Darmenden miteinander vernähen kann. Das am Sheikh Zayed Institut für Innovation in der Kinderchirurgie in Washington entwickelte System namens START ist in der Lage, selbständig den optimalen Punkt für den nächsten Stich zu finden, obwohl sich das Darmgewebe unter der Zug des vorherigen Stichs verformt. Ein wichtiger Schritt, stellt weiches Gewebe für autonome OP-Systeme doch eine viel größere Herausforderung dar, als beispielsweise Knochen. Systeme, um passgenau ein Loch für eine Hüftprothese aussägen, gibt es daher schon länger.
Wo letztendlich die Grenzen zwischen autonomen OP-Robotern und Systemen mit menschlichen Supervisoren liegen wird, bleibt abzuwarten. Sowohl bei der Genauigkeit der Stiche als auch beim Endergebnis, der Dichtigkeit des Darms übertraf START, laut den Ergebnissen der US-Forscher, sowohl die Schlüssellochchirurgie als auch von Menschen direkt gesteuerte Roboterarme.
Bis jede Klinik mit solchen (semi)-autonomen Systemen arbeitet, wird es aber noch ein wenig dauern und über den Weg dorthin sind sich die Auguren auch nicht ganz einig. Für Marcus Hintze spielt im ersten Schritt die Optimierung der Logistik eine zentrale Rolle auf dem Weg zum Krankenhaus der Zukunft. Unter dem Stichwort Ortung subsumiert das Fraunhofer IML alle Lösungen für kurze Such- und Transportzeiten sowie einen optimalen Gerätebestand. Egal, ob mittels RFID-Chip, Sensor-Gates, Beacons oder Smart Devices, für die Logistikexperten ist es dazu wichtig zu wissen, wo sich Betten, Geräte und nicht zuletzt Patienten gerade befinden. Sind diese Informationen vorhanden, bieten zukünftig smarte Geräte, wie intelligente Container, Smart Labels oder die Datenausgabe via Mobile und Augmented Reality (AR) Devices, bessere Prozesse und Optimierungspotential bei Bestellungen, Lagerhaltung, Transport und der Planung von Abläufen.
Langfristig soll dann ein Hospital Cockpit jederzeit Einblick in alle Aspekte des Klinikbetriebs bieten und für mehr Transparenz und Effizienz sorgen.
Einen deutlich weniger gesundheitszentrischen Blick auf den Wandel gestattet man sich bei Porsche Consulting. Laut Dr. Roman Hipp, einem der Partner des Beratungsunternehmens, sind „Krankenhäuser traditionell technologische Vorreiter was die medizinische Seite der Technik betrifft.“ Beispielhaft wären der erste Herzschrittmacher (1958), die Telemedizin und remote Robotersteuerung (2001) oder der 3D-Druck in der Medizin (2014). Dem gegenüber sieht der gravierende Defizite bei der Digitalisierung. „Unsere Umfragen ergaben, dass in 90% der Krankenhäuser noch immer Papierakten vorherrschen.“ Bei rund 40% der Befragten gäbe es zudem „keine großen Schritte bei der Digitalisierung.“
In allen anderen Bereichen der Wirtschaft hätte eine solche Situation längst dazu geführt, dass Plattformen traditionellen Unternehmen den Rang abgelaufen hätten. Uber, Amazon, Netflix oder Skype sind nur einige Beispiele für disruptive Lösungen, allesamt Plattformen, die Märkte ohne eigene Betriebsmittel in den jeweiligen Bereichen aufgemischt haben. Das größte Taxiunternehmen hat keine Taxis, der größte Retailer keine Ladengeschäfte, das größte Kino keine Kinosäle und die größte Telefongesellschaft kommt ohne Telekommunikationsinfrastruktur aus. Sie waren für die Märkte, die sie angriffen, nicht einmal traditionelle Wettbewerber.
Unter normalen Bedingungen würde Hipp dies auch für den Gesundheitsmarkt und somit auch den Bereich der stationären Versorgung erwarten. Aus seiner Sicht wären neue Marktteilnehmer, Plattformen und Lösungen von außerhalb der klassischen Kern- und Randbereiche des Gesundheitswesens die natürlichen Treiber grundlegender Veränderungen. Nano-Tech-Unternehmen, Hersteller von Sensoren und Wearables, Unternehmen aus dem Bereich Robotik, Telemedizin oder Biomedizin und nicht zuletzt Cloud-Plattformen im Bereich Genomanalyse, künstliche Intelligenz und datengestützter Dienstleistungen wären die wahrscheinlichsten Herausforderer auf dem Weg zu einem patientenorientierten Gesundheitsmodell.
Wenn, ja wenn es nicht so viele einengende Faktoren gäbe. Deshalb gibt es aus seiner Sicht „derzeit keinen Ansatz für neue Geschäftsmodelle im Krankenhaus, obwohl das Gesundheitswesen an sich viel Potential für neue Ansätze bieten würde.“ Es scheint noch ein langer Weg zum Krankenhaus der Zukunft.