Gesundheitsökonomie

Expertenmeeting zu Zukunftsperspektiven der Inkontinenz-Versorgung

Gilt noch das Sachleistungsprinzip?

26.06.2012 -

In den letzten Jahren ist die Vertragslandschaft für die Versorgung von Patienten mit aufsaugenden Inkontinenzprodukten innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung in Bewegung geraten. Seit Inkrafttreten des Wettbewerbsstärkungsgesetzes am 01. April 2007 werden die Vor- und Nachteile von Ausschreibungen und Beitrittsverträgen sowie die Höhe der Monatspauschalen kontrovers diskutiert.

Mit welchem Vertragsgestaltungsmodell können die GKVen eine adäquate Versorgung inkontinenter Menschen heute und in Zukunft sicherstellen? Dies war zentrale Frage beim Expertenmeeting zur Inkontinenz-Versorgung, zu dem die PAUL HARTMANN AG Vertreter der Kassen, des Bundesministeriums für Gesundheit, des Gesundheitsausschusses und Leistungserbringer nach Berlin eingeladen hatte. Ihr Fazit: Es darf zu keiner schleichenden Aushöhlung des Sachleistungsprinzips durch unzureichende Monatspauschalen kommen. Eine sachgerechte Versorgung mit aufsaugenden Inkontinenzprodukten muss auch ohne Aufzahlung des Patienten möglich sein.

Wie Dieter Buschmann, Leiter HARTMANN Deutschland, einleitend betonte, begrüße das Unternehmen Ausschreibungen und Beitrittsverträge in ihrer grundsätzlichen marktwirtschaftlichen Relevanz. Allerdings dürften sich die Kassen nicht der Verpflichtung entziehen, die Bedingungen so zu gestalten, dass ein fairer Wettbewerb gesichert sei.

Carla Grienberger, Leiterin Referat Hilfsmittel beim GKV-Spitzenverband, führte aus, dass seit Bestehen des Wettbewerbsstärkungsgesetzes 21 Ausschreibungen nach § 127 Abs. 1 SGB V sowie 47 Beitrittsverträge nach § 127 Abs. 2 SGB V bei aufsaugenden Inkontinenzprodukten geschlossen worden seien. Generell sei eine deutlich rückläufige Tendenz bei der Anzahl der Ausschreibungen zu erkennen: Die Mehrheit der Kassen setze auf Beitrittsverträge. Sowohl bei Beitrittsverträgen wie bei Ausschreibungen seien, so Grienberger weiter, die Monatspauschalen gegenüber 2007 deutlich gesunken. Der niedrigste Preis bei
Ausschreibungen liege aktuell bei 16 bis 18 Euro netto. Vor diesem Hintergrund müsse man die Frage stellen, inwiefern mit solchen Monatspauschalen eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung der Patienten gemäß Hilfsmittelverzeichnis und Sachleistungsprinzip gewährleistet werden könne?

„Die Hauptverantwortung für eine ordnungsgemäße Umsetzung der Ansprüche der Versicherten liegt bei den Krankenkassen", formulierte Prof. Hans-Georg Will, Leiter des Referats Heil- und Hilfsmittel des Bundesgesundheitsministeriums, seine Erwartungen an die Krankenkassen. Wenn ein Versorgungsvertrag abgeschlossen sei, ende die Verantwortung der Kassen nicht. Dann gehe es darum, sicherzustellen, dass die Versorgung tatsächlich in der vereinbarten Qualität erfolge. Das erfordere eine Evaluation, wie sie im SGB V vorgesehen sei. Besondere Vorsicht diesbezüglich sei laut Will vor allem bei Ausschreibungen geboten, denn: Je niedriger der Preis, desto anfälliger die Qualität der Versorgung - sowohl in puncto Produkt als auch in Sachen der Betreuung und Logistik. „Die Krankenkassen müssen dafür Sorge tragen, dass die Leistungserbringer ihren vertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß nachkommen", steht für den Experten fest. „Sie dürfen die Versicherten nicht im Regen stehen lassen und ihnen die Auseinandersetzung mit den Leistungserbringern überlassen. Die Versicherten müssen versprochene Leistungen erhalten."

Herausforderungen, denen die Krankenkassen auf unterschiedlichen Wegen gerecht werden wollen: Während die BARMER GEK die Ausschreibungsvariante gem. § 127 Abs. 1 SGB V praktiziert, entschied sich die Knappschaft Bochum nach sorgfältiger Abwägung der Pros und Cons für das Beitritts- bzw. Verhandlungskonzept gem. § 127 Abs. 2 SGB V. Für Friedrich Stodt, Dezernent Leistungsmanagement bei der Knappschaft, ist es wichtig, dass die Versicherten eine große Auswahl unter den Leistungserbringern und die Möglichkeit einer Produktauswahl hätten. Ziel sei es, eine Versorgung nach den gültigen Hygiene-, Pflege- und Versorgungsstandards mit qualitativ hochwertigen Produkten sicherzustellen. Damit habe laut Stodt die Knappschaft eine Entscheidung für Qualität auch mit bekannten Spezialversorgern getroffen.

Dagegen führte Klaus Mehring, Sachgebietsleiter Heil- und Hilfsmittelmanagement bei der BARMER GEK, an, dass das Ziel seiner Kasse eine ausreichende und wirtschaftliche Grundversorgung sei. Die Notwendigkeit einer Wahlmöglichkeit für Patienten sehe er nicht. „Denn das, was der Versicherte medizinisch benötigt, erhält er aufzahlungsfrei." Wunschprodukte hingegen seien Komfort, der eine wirtschaftliche Aufzahlung rechtfertige. Allerdings räumte Mehring ein, dass die Monatspauschalen der aktuellen BARMER GEK Aus-schreibung keine Möglichkeiten für eine im Einzelfall notwendige patientenindividuellere Versorgung zuließen. Selbstverständlich gebe es auch Schwierigkeiten, Versicherte auf einen neuen Leistungs-erbringer umzustellen. Erfahrungsgemäß dauere es drei bis vier Monate, bis die Versorgung ohne Zwischenfälle vonstattengehe, so der BARMER-Experte. Er betonte abschließend, dass die wirtschaftliche Versorgung inkontinenter Patienten auch zu einer Beitragsstabilität seiner Kasse beitrage - und damit allen Versicherungsnehmern zugutekomme.

Die Strehlow GmbH, die etwa 10.000 Patienten in fünf Bundesländern versorgt, hat sich inzwischen gegen die Teilnahme an Ausschreibungen entschieden. Geschäftsführer Uwe Strehlow ist überzeugt, „dass eine gute Versorgung nur durchführbar ist, wenn man die Chance hat, vor Ort langfristig Strukturen aufzubauen." Bei allen erforderlichen Sparzwängen sei er als Leistungserbringer weder bereit, die Dienstleistung am Kunden einzuschränken, noch an Menge oder Qualität der Produkte zu sparen oder die formalen Anforderungen an die Versorgung zu vernachlässigen. Ziel müsse vielmehr die schnelle, bedarfsgerechte, zuverlässige - und ethisch vertretbare Versorgung der Patienten mit aufsaugenden Inkontinenzhilfsmitteln sein.

Raimund Koch, Leiter Referat Gesundheitspolitik bei der PAUL HARTMANN AG, ergänzte, dass bei einer Monatspauschale von 17,00 Euro kein Leistungserbringer mehr eine sachgerechte Versorgung versprechen könne. Nach Abzug der Transaktionskosten für Logistik, Belieferung und Administration verblieben noch 9,00 Euro für einen durchschnittlichen Monatsbedarf von 100 Produkten (= 0,09 Euro / Stück). Dazu im Vergleich: Eine Babywindel koste derzeit im Drogeriemarkt ca. 0,17 Euro netto, so Koch. Derart niedrige Monats-pauschalen bei Ausschreibungen führten unweigerlich zu Aufzahlungen der Versicherten für die notwendigen Produkte. - Und damit sei das Sachleistungsprinzip der GKV ausgehebelt, weil eine Mehrheit der Patienten aufzahlen müsse. Die PAUL HARTMANN AG präferiere daher Beitrittsverträge nach § 127, Abs. 2 SGB V. Diese ermöglichten Kassen einen direkten Einfluss auf die Versorgungsqualität und sicherten darüber hinaus den Patienten ein Wahlrecht zwischen Leistungserbringern und Produkt.

Auch die Bundesregierung hält am Sachleistungsprinzip bei Hilfsmitteln fest. Es gäbe derzeit politisch keine Diskussion über eine Änderung des Status quo, betonte Karin Maag (CDU), Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags, in der abschließenden Podiumsdiskussion. Eine systematische Aufzahlungspraxis lehnte sie entschieden ab. Man müsse vielmehr, so auch der Konsens der Expertenrunde, die Versorgungsrealität genau betrachten und vor allem eine Versorgungssicherheit für die Patienten sicherstellen. Generell halte man am Sachleistungsprinzip fest. Der Patient müsse die notwendigen Produkte ohne Aufzahlung erhalten. Aufzahlungen seien nur dann akzeptabel, wenn der Patient Produkte wünsche, die die ausreichende und zweckmäßige Versorgung überschreiten würden.

 

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