Gesundheitsökonomie

Klinische Behandlungspfade: Ein Eingriff in die ärztliche Therapiefreiheit?

01.02.2011 -

Klinische Behandlungspfade versus ärztliche Therapiefreiheit? Eine Gegenüberstellung der Begrifflichkeiten „ärztliche Therapiefreiheit" und „evidenzbasierte Leitlinien" soll Klarheit verschaffen.

„Jeder Patient ist individuell." - Ein Argument, das Mediziner gerne verwenden, sobald es um die Implementierung klinischer Behandlungspfade geht. Dies wird auch gar nicht infrage gestellt; sehen wir jedoch die andere Situation: Ein Patient kommt nachts in die Notaufnahme eines Krankenhauses und trifft auf einen jungen unerfahrenen Assistenzarzt. Ist es hier nicht sinnvoll, diesem ein Leitinstrument in Form eines klinischen Behandlungspfades zur Hand zu geben, welches ihn sofort „behandlungsfähig" macht? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, einmal die Begrifflichkeiten „ärztliche Therapiefreiheit" und „evidenzbasierte Leitlinien" - die Basis für jeden Behandlungspfad - gegenüberzustellen:

Nach der Genfer Deklaration des Weltärztebundes, die auf den Eid des Hippokrates zurückgeht, gelobt jeder Arzt zu Beginn seiner Tätigkeit: „Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein." Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist in erster Linie durch eine persönliche Vertrauensbasis geprägt, die auf der Erwartung des Patienten fußt, sein Arzt berate und versorge ihn optimal, unabhängig von finanziellen Überlegungen oder administrativen Weisungen. Geht man zu den Betrachtungen zurück, Medizin als Kunst zu verstehen, und bringt diese in Einklang mit den Besonderheiten der Beziehung zwischen Arzt und Patient, leitet sich die ärztliche Therapiefreiheit ab. Sie besagt, dass eine Therapie nicht von außen vorgegeben sein darf, sondern in der Verantwortlichkeit des Arztes liegt, um Behandlungsentscheidungen für den einzelnen Patienten zu treffen, die zu den individuellen Gegebenheiten passen.

Die Definition sieht evidenzbasierte Medizin als den „gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der evidenzbasierten Medizin bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung." Auf der Evidenzanalyse basieren die Leitlinien. Sie haben die Aufgabe, das umfangreiche medizinische Wissen „in expliziter Weise systematisch darzulegen, unter methodischen und klinischen Aspekten zu bewerten, gegensätzliche Standpunkte darzustellen und zu klären, unter Abwägung von Nutzen und Schaden das derzeitige Vorgehen der Wahl zu definieren". Leitlinien bezeichnen den „State of the Art" einer medizinischen Behandlung. Die Fachgesellschaften legen sie mit dem Ziel fest, stets aktuelle medizinische Erkenntnisse für eine optimale Behandlung eines Patienten zu berücksichtigen.

Behandlungspfade und Leitlinien ergänzen sich in einer konzeptionellen Fusion gewinnbringend - mit der Entscheidungsunterstützung der Leitlinie einerseits und der prozessorientierten Fokussierung des klinischen Behandlungspfades andererseits. Die Leitlinie liefert die evidenzbasierte Rahmenbedingung, die durch den Behandlungspfad in der klinischen Praxis der jeweiligen Institution konkretisiert und implementiert wird. Sie besitzen das Ziel, sowohl den besten Weg für einen Patienten als auch eine Institution zu erreichen.

Da stellt sich die Frage, ob die ärztliche Therapiefreiheit durch den Einsatz klinischer Behandlungspfade nicht eingeschränkt sei. Sie kann jedoch verneint werden, da bereits die Definition evidenzbasierter Medizin auf die medizinische Versorgung individueller Patienten abhebt. Zudem haben alle Definitionen von Behandlungspfaden eines gemein: Bei einem medizinisch begründeten Abweichungsbedarf müssen sie immer eine ausreichende Flexibilität erlauben. Das heißt, Varianzen sind möglich. Sie müssen jedoch in Hinblick auf die Verbindlichkeit nachvollziehbar sein, also dokumentiert werden. Die Analyse der Varianzen bietet dazu die Chance, die kontinuierliche Weiterentwicklung der medizinischen Behandlung sicherzustellen.

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