Entzündete Nieren als Frühwarnzeichen für schwere Verläufe bei COVID-19
11.05.2020 -
Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen entwickeln einen Handlungspfad zur Vorhersage von Erkrankungsschwere und Organkomplikationen bei COVID-19.
Einen Handlungspfad zur Früherkennung und Behandlung von schweren Verläufen bei COVID-19 Infektionen hat ein Expertenteam der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) entwickelt. Ein einfacher Urintest soll dem ärztlichen Fachpersonal helfen, schon früher Warnzeichen für einen bevorstehenden schweren Verlauf der COVID-19 Erkrankung zu erkennen. Anhand weniger Parameter kann so, noch Tage, bevor Lunge und andere Organe schwer versagen, mit der Behandlung drohender Komplikationen begonnen werden. Damit ließen sich bei vielen Erkrankten lebensbedrohliche Verschlechterungen und Todesfälle verhindern. Die Erkenntnisse der UMG-Wissenschaftler sind am 6. Mai 2020 als „Correspondence“ in „The Lancet“ online veröffentlicht.
Nicht-interventionelle Beobachtungsstudie
Ob und wie sehr der vorgeschlagene Handlungspfad zu einer Verbesserung der Krankenversorgung bei Covid-19 Infektionen beitragen kann, wird seit dem 24. April 2020 im Rahmen einer großen, nicht-interventionellen Beobachtungsstudie mit dem Titel „Covid-19 assoziierte Nephritis als Prädiktor für die Erkrankungsschwere und Komplikationen“ unter Beteiligung mehrerer Universitätskliniken in Deutschland untersucht.
Bei der stationären Behandlung von COVID-19 Infektionen war dem Expertenteam aus der UMG aufgefallen, dass gerade bei den Schwerstkranken – neben Lunge und Herz – schon frühzeitig die Nieren mit betroffen sind. Daraufhin hatten die Ärzte der UMG begonnen, ihre Befunde mit Experten aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und anderen deutschen Universitätskliniken zu evaluieren und zu diskutieren und sich mit Fachleuten aus Italien, China, England und den USA auszutauschen. Aktuelle Gewebsuntersuchungen an Verstorbenen unterstützen die Vermutung, dass aufgrund der Dramatik der Erkrankung der anderen Organe die frühe Nierenbeteiligung bisher vernachlässigt wurde.
Handlungspfad der UMG bei COVID-19 assoziierter Nephritis
Wenn im Urin der Verdacht auf eine COVID-19 assoziierte Entzündung der Nieren (Nephritis) besteht, folgt im Handlungspfad der UMG die Bestimmung von nur drei weiteren einfachen Parametern: Albumin im Blut, Albumin im Urin und Antithrombin III. Diese drei Parameter dienen zusammen mit dem Urinbefund dazu, das so genannte „capillary leak Syndrom“ zu diagnostizieren: Dies bedeutet einen lebensbedrohlichen Verlust von Blut-bestandteilen und Eiweiß aus dem Blut in das (Lungen-)Gewebe durch ein vom Virus ausgelöstes generelles Leck der kleinen Blutgefäße. Anhand der drei Parameter erfolgt die Risikoeinstufung der Patienten.
„Ist auch nur einer von drei Parametern schwer verändert, besteht ein hohes Risiko, dass sich die Erkrankten auf Normalstation zeitnah verschlechtern, auf die Intensivstation verlegt werden müssen oder sich der Verlauf auf Intensivstation noch verschlechtert“, sagt der Erst-Autor der Publikation, Prof. Dr. Oliver Gross, Oberarzt in der Klinik für Nephrologie und Rheumatologie der UMG.
Der Handlungspfad der UMG für die Früherkennung des capillary-leak Syndroms bei COVID-19 Erkrankten sensibilisiert Fachpersonal dafür, ihr Handeln frühzeitig auf kritische Werte im Blut im Zusammenhang mit einer COVID-Erkrankung auszurichten:
Bei schwerem Mangel von Albumin im Blut entwickelt sich ein interstitielles Lungenödem (Wasserlunge). Durch das Kapillarleck kommt es zum Verlust von Albumin aus dem Blut in das Lungengewebe. Das Lungengewebe quillt an, das Atmen und der Austausch von Sauerstoff werden erschwert. Die Wassereinlagerungen werden mit Entwässerungstabletten behandelt. Durch die Früherkennung des schweren Albuminmangels im Blut weiß das Fachpersonal zeitig, worauf jetzt besonders zu achten ist:
• die Entwässerungstherapie kann noch vor Verschlechterung der Atmung beginnen;
• die Entwässerungsmedikamente wirken bei Albuminmangel weniger gut. Zur Entwässerung werden daher deutlich höhere Dosierungen gebraucht. Oder es müssen schon früher für den Wasserentzug Dialysemaschinen eingesetzt werden, bevor das Lungengewebe voller Wasser läuft;
• kritische Medikamente, wie Antibiotika, können durch die geänderte Plasmaeiweißbindung eine unerwartet andere Wirkstoffkonzentration haben. Daher sollten vorbeugend die Medikamentenspiegel bestimmt werden;
• der Mangel an Eiweiß im Blut kann besonders leicht zum Kreislaufversagen führen. So können frühzeitig vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden.
Bei schwerem Mangel an Antithrombin III im Blut sind Thrombosen (Gerinnsel in den Blutgefäßen) und Thrombembolien (Gerinnsel lösen sich und verstopfen die Lungengefäße) die Folge. Blutverdünnungsmittel, wie Heparin, werden vorbeugend eingesetzt, um Thrombosen und Thrombembolien zu verhindern. Durch die Früherkennung des schweren Antithrombinmangels im Blut weiß auch hier das Fachpersonal zeitig, worauf besonders zu achten ist:
• die vorbeugende Therapie mit Blutverdünnungsmitteln kann vor der Bildung von Blut-gerinnseln beginnen;
• das gebräuchlichste Blutverdünnungsmittel Heparin wirkt nicht richtig, da Heparin über das Antithrombin wirkt. Daher braucht es meist deutlich höhere Heparindosen, um den gewünschten vorbeugenden Effekt zu erzielen und so Blutgerinnsel zu verhindern.
„Wenn sich die Befunde des Ärzteteams der UMG bestätigen, hätte dies einen nachhaltigen Effekt. So könnte künftig bereits im Vorfeld die Notwendigkeit einer kommenden Behandlung auf Intensivstation vorhergesagt werden“, sagt die Senior-Autorin der Publikation, Prof. Dr. Simone Scheithauer, Direktorin des Instituts für Krankenhaushygiene und Infektiologie der UMG. „Zudem könnten Patienten früher und zutreffender für spezielle Therapien zugeordnet werden (auch bei Medikamentenstudien). Durch das frühe Erkennen des capillary-leak Syndroms könnten symptomatische präventive Therapien ein-geleitet werden und so vielleicht sogar lebensbedrohliche Verläufe verhindert werden“, so Prof. Scheithauer.
Der Handlungspfad der UMG beginnt mit einer einfachen Urinuntersuchung. Daher halten die Autoren das Vorgehen auch für COVID-19 Patientengruppen in Pflegeheimen geeignet und für Betroffene, die nach Diagnosestellung zunächst ambulant zu Hause behandelt werden. Hier könnte der Urinbefund als Frühwarnzeichen dafür dienen, dass eine Verschlechterung des Zustandes droht. So könnte zeitig eine ambulante Maßnahme früher einsetzen und weiteren Schaden und vielleicht einen Krankenhausaufenthalt verhindern.