Unfallchirurgisch-orthopädische Versorgung von Kindern
10.10.2013 -
Hilfe! Wo ist die Bremse? Trendsportarten wie Inlineskating und Skateboarding, aber auch das Fahrradfahren ohne Helm führen in Deutschland täglich zu fast 5.000 unfallbedingten Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen.
Noch bessere Prävention könnte zwar viele, aber sicher nicht jedes Ereignis verhindern. In diesen Fällen ist eine altersgerechte Versorgung besonders wichtig, um die verletzten Körperteile mit bestmöglicher Funktion, Form und Aussehen wieder herzustellen und chronische Folgezustände zu vermeiden.
Ungenügende Vorsicht der Eltern, mangelndes Wissen der Heranwachsenden, zu gering ausgebildete Motorik und Reflexfähigkeit wegen fehlender körperliche Bewegung - es gibt unzählige Gründe dafür, warum es zu Unfällen im Kindesalter kommt. 60 % dieser Unfälle könnten verhindert werden, wenn die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e.V. seit langem empfohlenen Präventionsmaßnahmen besser greifen würden. Das gilt gleichermaßen für Vergiftungen, Ertrinkungsunfälle, Treppenstürze und den Sturz vom Wickeltisch im Säuglingsalter wie für Unfälle durch Outdooraktivitäten. Letztere sind heute der häufigste Grund für Verletzungen im Schulalter. Aber Prävention ist eine komplexe gesellschaftspolitische Herausforderung - für Eltern, Schule, Betreuer, Ärzte und den Gesetzgeber. Sie erfordert Geduld, Beharrlichkeit in der Aufklärung und in der Umsetzung praktischer Maßnahmen. Dazu gehören regelmäßige Informationsgespräche in der Kinderarztsprechstunde, Anleitung für den Gebrauch von Sportgeräten, Förderung des Vereinssports sowie die Verhinderung ausfallender Schulsportstunden, nennt PD. Dr. Dirk W. Sommerfeldt vom Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) in Hamburg nur einige einfach zu realisierende Beispiele. Obwohl die Zahl von schweren Verletzungen durch Verkehrsunfälle dank Airbags, Gurten usw. insgesamt rückläufig ist, werden täglich bei ihm in der Kindertraumatologie im Durchschnitt acht Kinder nach Schul- und Kindergartenunfällen eingeliefert. Insgesamt sind in der Notfallambulanz täglich ca. 30 Patienten nach Unfällen behandlungsbedürftig.
Knochenbrüche: Konservative Behandlung gleichwertiger Therapiepartner der Operation
Die typischen unfallchirurgisch zu versorgenden Verletzungsmuster finden sich bei Kleinkindern eher am Kopf. Im Schulalter überwiegen die der (oberen) Extremitäten. Hier gilt es nach wie vor, das natürliche Korrekturpotenzial auszunutzen und nicht unnötig zu operieren, betont Sommerfeldt. Denn bei Kindern können sich, anders als bei Erwachsenen, bei denen deutlich häufiger operiert werden muss, Fehlstellungen in der Nähe von Wachstumsfugen durch das Längenwachstum selbst korrigieren. Der oft vorgefassten Meinung von Eltern, eine OP sei besser für ihr Kind als längeres Zuwarten, müsse mit entsprechenden Aufklärungsgesprächen begegnet werden, die eine bestimmte Therapieentscheidung begründen.
Erscheint hingegen eine Fehlstellung nicht mehr spontan - also über das natürliche Wachstum - korrigierbar, werde, wie bei den angeborenen, auch zur Vermeidung posttraumatischer Fehlstellungen jetzt häufiger die Epiphyseodese angewandt. Diese Wachstumslenkung über einen längeren Zeitraum ist ein deutlich weniger invasiver Eingriff. Hier hat im Fachgebiet ein Paradigmenwechsel stattgefunden.
„Wir als Spezialisten der Kinderunfallchirurgie wissen heute ganz genau, wann es besser ist auf die biologische Korrektur zu warten und was sich eben nicht spontan korrigiert. Bei gesicherter Indikation wird heute sehr frühzeitig operiert," erklärt der Kindertraumatologe. Die Entscheidung fällt dann unter Berücksichtigung des Alters und der Lokalisation des Bruchs, d. h. in Abhängigkeit des Wachstumspotenzials in der benachbarten Wachstumsfuge. In der Nähe einer stark wachsenden Fuge ist es eine Domäne der konservativen Therapie, während nahe einer schwach wachsenden oder bei Fraktur in einer Wachstumsfuge operativ versorgt werden sollte. So können spätere aufwändige Korrekturen von Fehlstellungen vermieden werden.
Befragt nach einem „Heureka", das Sommerfeldt sich für die nahe Zukunft in der Kinderunfallchirurgie wünscht, würde er das Therapiekonzept des Einsatzes von Federnägeln, welches in der Altersgruppe von 4-14 hervorragend funktioniert, für Kinder unter 4 und vor allem auch für größere und schwerere Jugendliche auf die Agenda setzen. „Wir wissen ziemlich gut Bescheid über die Therapiestrategien bei Kindern und bei Erwachsenen. Bei Jugendlichen besteht noch Nachholbedarf in Techniken und Medizinprodukten. Für die sog. „Betweens" müssten einfach einzusetzende, aber gleichzeitig stabilere Implantate entwickelt werden."
Ein weiteres Thema mit Innovationspotenzial, das ebenso wie die Marknagelung im Oktober auf dem nächsten Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie eine Rolle spielen wird, sind resorbierbare Implantate, die den Kindern später die Metallentfernung ersparen würden.
Verzahnung von Akutmedizin und Rehabilitation
Ebenso wie die OP-Entscheidung sollte das Vorgehen bezüglich der Schmerztherapie und der Rehabilitation kindgerecht erfolgen. So sollte die Gabe wirksamer und verträglicher Schmerzmedikamente in entsprechend patientenfreundlichen Applikationsformen und unter Ausschluss bekannter Nebenwirkungen heutzutage zum Standard gehören.
Wurde primär korrekt behandelt, so erledigt sich die Rehabilitation, insbesondere bei kleineren Kindern, über ambulant gesteuerte „ganz normale" Sport- und Spielmaßnahmen weitgehend von selbst. Oft ist keine Physiotherapie erforderlich; manchmal, z.B. am Ellenbogen, sogar kontraproduktiv, weiß Sommerfeldt aus langjähriger Erfahrung. Für die wenigen wirklich schweren Unfälle mit komplikationsträchtigen Verletzungen profitieren Kinder von sehr guten stationären, auf Kinder spezialisierten Rehakliniken mit pädagogisch geschulten Physiotherapeuten. Ein kürzlich von den Berufsgenossenschaften eingerichtetes sog. Rehamanagement mit einem Frühwarnsystem, in dem die Betroffenen sehr schnell spezialärztlich betreut werden, gewährleistet die Langzeit-Überwachung schwerverletzter Kinder, um bei Bedarf rechtzeitig adäquate Heil- und Hilfsmaßnahmen einzuleiten.