Sind so alte Hände - Material als Medium der Erinnerung
Handlungen und Oberflächen werden in den folgenden Ausführungen als Zusammenspiel des Menschen mit seiner Umwelt beschrieben. Forderungen an sensorische Gestaltungen von Bedienelementen lassen sich daraus ableiten. Material als Speicher kollektiver Erinnerung wird besonders eindrücklich, wenn es an Orten inszeniert wird, die von regionaler Bedeutung sind. Erinnerungen an vergangene Arbeitswelten entwickeln sich zum Ort kollektiver Identifikation, wenn körperliche Erfahrungen ins Material eingeschrieben sind und unmittelbar berühren. Beispielhaft wurde mit dem Landschaftspark Duisburg-Nord der Wandel einer Industrieanlage zum öffentlichen Raum vollzogen, dessen Zentrum eine Anordnung von Platten zeigt, die als abstraktes Schachbrett auf futuristischem Stadtplatz erscheinen.
Wo einst toxische Dämpfe und Hitze eine gefahrvolle Umgebung bildeten, entstand ein Platz, der auf seine Figuren wartet. Das Spiel der Könige bietet den Anblick eines massiv bearbeiteten Materials, das dem toxischen Gießbett einer Mangan-Erzgießerei entnommen, Objekt der Erinnerung wurde.
Im Zentrum des Hochofenparks, der noch vor Jahrzehnten von giftigen Gasen der Produktion kontaminiert war, entstand ein Zentrum, das an die Arbeitswelten der Stahlproduktion erinnert. Ein emotional aufgeladenes Display, das an Kontexte der Minimal Art der 1970er Jahre erinnert.
Themenwechsel
Was uns der Automobilbau mit dem Einzug großer Displays und dem Verlust von Knöpfen, Schaltern und Griffen zukunftsweisend vorführt, zeigt auch im funktionalen Design und der Architektur bereits seine traurigen Parallelen. Plane, kalte Oberflächen ohne haptische Erlebnisse erobern im Zeichen von Smart-Technologie die Bedienelemente. Anforderungen an komplexe Steuerungssysteme verdrängen klassische Schalter mit ihren vielfältigen Nippeln und Knöpfen, deren Klick-Klack-Geräusche (medAmbiente 2/ 2019) bereits vergessen zu sein scheinen. Nur im Luxusbereich überdauern funktionale Retroelemente in Metall, Kristall und Carbon.
Dass mit dem Verlust taktiler Qualitäten drastische Konsequenzen verbunden sind, mag auf den ersten Blick nicht so recht einleuchten. Das Themenfeld haptischer Qualitäten ist aber keineswegs so trivial wie es zunächst scheinen könnte, denn in letzter Konsequenz geht es um ein Menschenrecht auf eine sensorisch reiche Lebenswelt, deren Bedeutung wir uns als Projektentwickler, Gestalter, Architekten und Betreiber in aller Konsequenz vor Augen führen sollten.
Taktile Elemente im Alter
Mein Interesse gilt der Suche nach wissenschaftlich fundierten Entwicklungen sinnlicher Erfahrungen und deren individuellem Erleben in sämtlichen Lebensphasen. Keineswegs ein verzichtbarer Luxus, sondern vielmehr modulare Teile sind es, die Bewegungen fördern und daher eine Existenzberechtigung haben. Auch gilt der Satz der Neurowissenschaft: Je komplizierter Anforderungen an Bewegungen sind, desto besser werden diese gelernt und schreiben sich als Spuren in unseren Erinnerungen ein.
Herbert Löllgen, Professor für Sportmedizin kann aus seiner Praxis als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention berichten, dass sich auch anhand der Griffkraft Rückschlüsse auf Gesundheit und Lebenserwartung ableiten lassen: „Fitte Finger, fitter Kopf: Forscher aus Manchester fanden heraus, dass ein starker Händedruck offenbar auf die geistige Leistungsfähigkeit schließen lässt. Menschen, die kräftig zupacken, verfügen demnach unter anderem über ein besseres Gedächtnis als Personen mit weniger Handkraft.“ (Carolin Heilmann, Roland Mühlbauer, Training für starke Hände. 7 Übungen, Apothekerumschau, April 2019.)
Mangel durch fehlende Berührungen
Sich die Hände geben? Hände schütteln? In Zeiten des Berührungsverbotes entfallen diese Rituale. Die Kraft anderer Menschen kann nicht mehr wahrgenommen werden. Nicht nur Hände und Füße vollbringen tägliche Leistungen, deren biographische Historie deutliche Rückwirkungen auf unseren aktuellen kognitiven Status haben. Jede Bewegung fördert Muskelkraft, Koordination und Geschicklichkeit – eine Einsicht, die zunehmend von Medizinern diskutiert wird. Befunde von motorischen Defiziten und deren Regeneration stehen im Vordergrund, wenn Bewegungsabläufe analysiert und Strecken rekonstruiert werden, um diese dann wieder in kleinen Schritten zu aktivieren. Solche Beiträge, finden sich regelmäßig in populärwissenschaftlichen Magazinen, aber auch dem Ärzteblatt.
Bisweilen erinnern die Beiträge an ganzheitliche Menschenbilder, wie diese aus den Reihen der Phänomenologie und Gestalttheorie entwickelt wurden, wenn Leib, Gestalt und Muster im Zeichen der Ambiguität, der sich selbst berührenden Hände als Bild leiblicher Selbstvergewisserung zitiert werden. Erfahrungen aus der Kinderpsychologie (Piaget, Merleau-Ponty) bilden Grundlagen, um auch motorische Prozesse älterer Menschen zu verstehen. Zentral werden dann Leiberfahrungen, die Handlungen des Subjekts in seiner Welt bestimmen, deren Atmosphären es aufnimmt und gleichzeitig prägt.
In diesem Verständnis bildet sich unsere Persönlichkeit durch Berührungen. Mangel an Kontakten wird als schmerzliche Erfahrung empfunden, die unsere Einheit von Körper und Seele belastet und zu schleichenden Depressionen führt. Durch positive taktile Erfahrungen aber, wie durch Begegnungen, Bewegung und Musik lassen sich Depressionen heilen. Taktile Erlebnisse als Erfahrung von Berührung bilden Strukturen, die Materie, Leben, Psyche und Geist als Einheit in räumlich-zeitlichen Handlungen ausbilden.
Selbstverständliche, intuitiv richtige Handlungen sind das Ergebnis erfolgreicher Prozesse, die mit dem zunehmenden Alter auf Systemen der Erinnerungen beruhen. Da mit dem Alter Muskelmasse und Muskelkraft abnehmen, wächst das Risiko von Stürzen und Verletzungen. Die American Society for Bone and Mineral Research brachte 2015 eine Studie heraus, die belegen konnte, dass „Menschen mit Sarkopenie ein doppelt so hohes Risiko aufweisen, nach einem Sturz eine Fraktur zu erleiden, wie beispielsweise eine gebrochene Hüfte, ein gebrochenes Bein oder einen gebrochenen Arm.“
Muskulatur und Festigkeit des Knochenaufbaus bedingen einander und spiegeln den gesundheitlichen Status, der einer täglichen Pflege durch Bewegung, taktile Erfahrungen und guter Ernährung bedarf. Vor wenigen Monaten äußerte sich der Neurowissenschaftler Henning Beck zum Thema erlernter Handlungen. Wurden sich etwa „falsche Bewegungsroutinen angeeignet – etwa für eine Sportart oder ein Musikinstrument – ist es verdammt schwer, diese wieder umzuprogrammieren. Also: langsam und bewusst anfangen und auf Details achten – etwa die richtige Haltung – und beim Wiederholen sich dann Stück für Stück dem Zieltempo annähern.“ (Endlich Samstag, DLF, Sendung vom 24. November 2018 mit Thilo Jahn und dem Neurowissenschaftler Henning Beck.) Der Schutz des Menschen, den die einst bekannte Bürgerrechtlerin der DDR, Bettina Wegner in dem Lied „Sind so kleine Hände“ – in poetischen Bildern Ende der 1970er Jahre einforderte, kann angesichts zunehmend alternder Gesellschaften als Erinnerungsmotiv dienen, um Lebenswelten älterer Menschen zu vergegenwärtigen, deren oft noch harte Bewegungsbiografien, wie am Beispiel der Arbeitswelt der Industrieanlage in Duisburg-Nord, in ihren Körpern eingeschrieben zum wertvollen Bestand ihrer Persönlichkeit wurden. Orte vergangener Arbeitswelten können regionale Erfahrungen einer kollektiven Biografie spiegeln, die als symbolische Brücke zwischen den Generationen gelesen werden können und gleichzeitig den Wert taktiler Erfahrungen als einen emotionalen Wert zeigen.
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