Wie lässt sich „gute“ Krankenhaushygiene messen?
23.05.2011 -
In den nächsten Jahren werden hygienische „Maßzahlen" als Vergleich der Krankenhäuser dienen. Doch welche sind geeignet? Wie viele Krankenhausinfektionen können vermieden werden? Ist die Forderung nach NULL-Infektionen realistisch?
Wie kann man gute Hygiene messen? Zur Beantwortung dieser Frage könnte man in klassischer Weise Bereiche heranziehen, die hierfür bisher schon betrachtet wurden:
- die Strukturen im Krankenhaus, z.B. ausgedrückt in hauptamtlichen Stellen in der Krankenhaushygiene,
- die Prozesse - z.B. in Form von Überwachungsuntersuchungen und Hygieneplänen sowie
- die Ergebnisse, z.B. erhoben im KISS-System.
Da sich viele Krankenhäuser am Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS) des Nationalen Referenzzentrums (NRZ) für Surveillance von beteiligen und dieses heute als möglicher Qualitätsindikator zum Benchmarking erwogen wird, soll es einer näheren Betrachtung unterzogen werden:
Im KISS werden seit Anfang 1997 von Krankenhäusern, die freiwillig teilnehmen, nosokomiale Infektionen erfasst. Die Erfassung konzentriert sich stark auf Intensivstationen und dort auf die Infektionen der unteren Atemwege (Pneumonien und Bronchitiden), auf Septik¬ämien und Harnweginfektionen. Dabei wird auch die Anwendung von sogenannten Devices, wie z.B. Harnwegskatheter, zentrale Venenkatheter (ZVK) und Beatmung, als Risikofaktor berücksichtigt.
Die Konzentration auf Intensivstationen ist aus krankenhaushygienischer Sicht sinnvoll, weil dort die höchsten Risiken vorliegen. Andererseits sind die Ergebnisse für ein Patienten-freundliches Benchmarking wenig sinnvoll, da der Patient überhaupt nicht weiß, ob er auf einer Intensivstation liegen und deshalb wohl kaum danach die Entscheidung für ein bestimmtes Krankenhaus treffen wird.
Vonseiten der KISS-Verantwortlichen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Teilnahme an KISS zu einer Abnahme nosokomialer Infektionen (NI) um 20-30 % führe. Da nach älteren Studien nosokomiale Infektionen durch Hygiene um etwa 30% gesenkt werden können, wird häufig implizit gefolgert, dass allein die KISS-Teilnahme ausreiche, um das Maximum der Absenkung von Krankenhausinfektionen zu erreichen. Doch ist das wirklich so? Bei genauerer Betrachtung der KISS-Daten und -Methode müssen Zweifel aufkommen.
Hat KISS Verbesserungen der Hygiene gebracht?
2005 wurde eine Befragung auf allen an KISS teilnehmenden Intensivstationen in Deutschland veröffentlicht, die schlussfolgerte, dass „auf vielen deutschen Intensivstationen ... evidenzbasierte Empfehlungen nicht implementiert" sind. So lag auf 16% der Stationen kein schriftlich fixierter Standard für die Anlage zentralvenöser Katheter (ZVK) vor, 37% wechselten den ZVK routinemäßig in festen Abständen, 5% der Intensivstationen legten nie einen suprapubischen Katheter. Wie kann man eine Senkung nosokomialer Infektionsraten erreichen, wenn die notwendigen Struktur- und Prozessvorgaben überhaupt nicht vorhanden sind?
Definitionen geändert - Infektionsraten gesenkt
Ein Grund für die laufende „Senkung" der Infektionsraten im Rahmen von KISS dürften dagegen ständig neue Definitionen der Infektionen sein. So gab es früher noch die Definition der klinischen Sepsis, die seit 2008 ersatzlos gestrichen ist. Seit 2011 ist eine Sepsis mit einem gewöhnlichen Hautkeim nur noch dann zu werten, wenn der Keim zweimal in Blutkulturen nachgewiesen wurde. Und bei der Pneumonie muss bei Patienten mit einer kardiopulmonalen Grunderkrankung - und wer hat die nicht auf einer Intensivstation? - ein Infiltrat neuerdings mehrfach nachgewiesen werden. Dies alles mag inhaltlich durchaus begründet sein, führt automatisch aber zu einer Abnahme der Anzahl der möglichen Infektionen per definitionem. Ist der „Erfolg" von KISS - eine Abnahme von Krankenhausinfektionen - also so zu erklären?
KISS-Daten als Benchmark?
Als für KISS noch Prof. Daschner - eine charismatische Persönlichkeit - verantwortlich zeichnete, stand außer Frage,
- dass die Daten lediglich zur internen Qualitätssicherung eingesetzt werden und
- dass Grundlage einer ehrlichen Erfassung „die uneingeschränkte Vertraulichkeit" der Daten ist.
Die heute für KISS Verantwortlichen dagegen empfehlen die KISS-Daten zum Benchmarking von Krankenhäusern, wohl wissend, dass sie durch die Eigenerfassung der Krankenhäuser leicht manipuliert werden können.
Die Erfahrung ist, dass am Anfang hohe Infektionsraten gemäß genauer Interpretation der Definitionen ermittelt werden. Spätestens nachdem die einzige im Haus vorhandene Hygienefachkraft vom zuständigen Chefarzt zusammengestaucht wurde, sinken die Raten deutlich ab. Auch so lassen sich „Erfolge" der Erfassung belegen.
Immerhin sagen - 2010 wie schon 1998 - die Verantwortlichen, dass die mit KISS ermittelten Infektionsraten die realen Infektionsraten in Deutschland deutlich unterschätzen. Wie kann man also derartige Daten zum Benchmark empfehlen?
Wie altmodisch darf‘s denn sein?
KISS ist eine sehr personalaufwendige Methode. In manchen Häusern sind Hygienefachkräfte fast nur noch mit der Erfassung für die KISS-Module beschäftigt und können ihrer eigentlichen Aufgabe der Überwachung und Schulung nicht mehr nachkommen. Dabei ist die Methode mit ihrer händischen Erfassung altmodisch und für die Zukunft nicht geeignet: In den nächsten Jahren werden sich in den Einrichtungen elektronische Patientenakten durchsetzen, die automatisch Befunde und Klinik zusammenführen und vom Personal nur noch die abschließende Entscheidung fordern werden, ob tatsächlich eine Krankenhausinfektion vorliegt. Die derzeitige KISS-Politik mit der Definition ständig neuer Module ist der Zukunft abgewandt.
Infektionsraten - andere Parameter als KISS denkbar?
Derzeit werden schon im Rahmen ¬der externen stationären Qualitätssicherung (ehemals BQS) diverse Wundinfektionsraten erfasst, z. B. bei Hüft-Endopro¬thesen- oder Knie-Totalendoprothesen-Erstimplantation. Das Problem hier¬bei ist allerdings die teilweise schlechte Kodierqualität gerade dieser Daten.
Eine Alternative stellen dagegen Abrechnungsdaten der Krankenkassen dar: Sie sind vorhanden, erfordern also keinen zusätzlichen Dokumentationsaufwand und sind durch Entgeltrelevanz weitgehend vollständig. Eigene Auswertungen (Krankenhausreport 2010, S. 223) zeigen z. B. die Ergebnisse (s. Tab. 1).
Eine derartige Spanne der Infektionsraten lässt sich nicht durch Zufall erklären. Die Krankenkassen sind dringend aufgefordert, ihre Daten auszuwerten und gegebenenfalls zusammenzuführen, um dadurch Qualitätsparameter zu ermitteln, die für die reale Bewertung eingesetzt werden können.
Überlegungen der DGKH
Die DGKH geht davon aus, dass künftig Maßzahlen zur Bewertung der Hygienequalität zum Einsatz kommen werden. Sie hat eigene mögliche Parameter entwickelt, die derzeit einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Dazu zählen z.B. Parameter
- wie Strukturqualität, z.B. Zahl des hauptamtlichen Hygienepersonals, Qualifikation des Hygienepersonals (einschließlich der Hygienebeauftragten), Qualität des Hygieneplans, Anteil der Einzelzimmer (als Möglichkeit zur Isolierung) sowie der Zimmer mit mehr als zwei Betten (als zusätzliches Risiko potentieller Übertragung), Anteil der Zimmer mit eigenem Sanitärbereich sowie die tägliche Reinigung der Sanitärbereiche
- Prozessqualität, z.B. Validierungen in der eigenen ZSVA, Überwachungsuntersuchungen von Endoskopen;
- Ergebnisqualität, z.B. MRSA-Raten in Blutkulturen oder Infektionsraten bei bestimmten BQS-Parametern.
Händedesinfektion - guter Parameter von Hygienequalität?
Die Händedesinfektion wird zurzeit vor allem mittels Beobachtung sowie Messung des Desinfektionsmittelverbrauchs ermittelt. Die Beobachtung scheint dafür allerdings kaum geeignet, da die Übereinstimmung der Ergebnisse bei verschiedenen Erhebern zwischen 30 % und 60 % schwankt. Dazu kommt, dass es natürlich dem Personal auf Station auffällt, wenn plötzlich jemand herumsteht, unbeteiligt in die Gegend schaut und Striche auf ein Papier macht.
Besonders überzeugend können hohe Compliance-Raten daher nicht sein: Inzwischen werden in England im Rahmen der vorgeschriebenen Beobachtungsmessungen in den öffentlichen Krankenhäusern Compliance-Raten von 99 % dokumentiert - man erinnert sich an die Wahlbeteiligung in doktrinären Regimen.
Im Rahmen von Hand-KISS wurden die Veränderungen beim Händedesinfektionsmittelverbrauch dokumentiert (s. Tab. 2).
Sind diese „Anstiege" nun ein Erfolg der Kampagnen zur Verbesserung der Händedesinfektion? Oder dokumentieren sie eher einen Misserfolg? Und was lässt sich für ein Benchmark folgern, wenn doch recht minimale Unterschiede zwischen den Häusern bestehen?
MRSA in Blutkulturen
MRSA in Blutkulturen sind seit Frühjahr 2009 meldepflichtig. Die Meldedaten können derzeit bereits über das RKI (Surv-Stat) auch von extern ausgewertet werden. Leider ergeben diese Auswertungen keinen Sinn, da die Zuordnung zum Wohnort und nicht zu der meldenden Einrichtung erfolgt. So kann man natürlich auch ein sinnvolles Instrument an die Wand fahren.
Grundsätzlich kann aber sicher die MRSA-Rate in Blutkulturen, bezogen z. B. auf Blutkulturabnahme-Häufigkeit und Gesamtpatientenzahl, als Gütekriterium für ein Haus herangezogen werden. Immerhin bedeutet jeder Nachweis auch eine schwere Infektion. Ähnlich dürfte auch eine Meldepflicht für MRSA in Wunden als Vergleichsparameter geeignet sein.
Wie viele Infektionen sind überhaupt vermeidbar?
Meist wird - wie dargestellt - behauptet, dass ohnehin nur maximal 30% der Krankenhausinfektionen vermieden werden können. Nach Meinung der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (Rundschreiben 405/2010) sind es laut „seriösen Hygieniker" vielleicht sogar nur 15%. Da stellt sich natürlich die Frage, ob man überhaupt noch etwas unternehmen soll?
Wie ist man in anderen Bereichen an derartige Fragen herangegangen?
1970 gab es in Deutschland 20.000 Verkehrstote jährlich, 2010 sind es noch 3.700. Erreicht wurde dies durch eine breite Palette von Maßnahmen: Abholzen der Alleebäume, breitere und begradigte Straßen, Gurtpflicht, Sicherheitszelle der Fahrzeuge usw. Die Investitionen für diese Maßnahmen waren gigantisch und schlagen sich heute auch in den Autopreisen nieder. Sie sind aber gleichzeitig die Gewähr, dass deutsche Autos immer noch führend im Weltmarkt sind. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hat inzwischen sogar das Ziel „Null Verkehrstote" formuliert.
Als J.F. Kennedy 1961 die Forderung aufstellte, dass noch im gleichen Jahrzehnt Menschen zum Mond und gesund zurückfliegen sollten, schien dies vielen unvorstellbar. Tatsächlich war die Forderung bereits 1969 mit Apollo 11 umgesetzt.
Die Folgerung hieraus: Nur wenn wir mutige Ziele formulieren, können wir auch mutige Schritte voran machen!
In den USA fordern inzwischen große Organisationen wie CDC, APIC und SHEA für einzelne Krankenhausinfektionen das NULL-Ziel und begründen es folgendermaßen:
„We must work together to eliminate HAIs (hospital acquired infections) for the generations to come."
Aus all dem lässt sich für hier und heute in Deutschland folgern:
Die Forderung nach „NULL-Krankenhausinfektionen" ist politisch jetzt angebracht!
Pseudo-Messungen wie KISS genauso wie Diskussionen um 15 oder 20% Reduktion werden keine Verbesserungen bringen. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion, Krankenhausinfektionen und ihre dramatische Reduktion zu einem Zentralthema der Medizin für die nächsten 20 Jahre zu machen. Natürlich geht dies nicht mit Hygiene allein, wir brauchen - auch um endogene Infektionen zurückzudrängen - weitere Maßnahmen: neue Therapien, neue Antibiotika, neue Medikamente, neue Medizinprodukte, neue Messmethoden und nicht zuletzt modernere Krankenhäuser.
Deutschland genießt weltweit aufgrund seines Gesundheitssystems immer noch einen hervorragenden Ruf. Damit dieser auch für die Zukunft gerechtfertigt ist, müssen wir wichtige Schritte in kurzer Zeit unternehmen, um Krankenhausinfektionen massiv zu reduzieren und dem Ziel NULL nahe zu kommen. Dieses wird die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im globalen Gesundheitsmarkt erhalten und stärken.