Dr. Jochen Schnurrer im Interview: Medikationsfehler vermeidbar
09.07.2012 -
Dr. Jochen Schnurrer im Interview: Medikationsfehler vermeidbar. Jedes Jahr muss in Deutschland bei stationären Patienten mit bis zu 30.000 Todesfällen gerechnet werden, die auf Irrtümer in der Arzneimittelverabreichung zurückzuführen sind. Zu den Ursachen systembedingter Medikationsfehler und nicht zuletzt zu der Frage, in welchem Maße sich diese durch stärkere Einbindung der Krankenhauspharmazie vermindern lassen, äußert sich Dr. Jochen Schnurrer, Leiter der Zentralapotheke des St. Bernward Krankenhauses, Hildesheim, und Vorsitzender der AG Medikationsfehler des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V.
Management & Krankenhaus: Wann kann es zu Irrtümern in der Arzneimittelverordnung kommen?
Dr. Jochen Schnurrer: Betrachtet man den Medikationsprozess von der Verordnung über die Arzneimittelbeschaffung bis hin zur Verabreichung des Arzneimittels am Patienten, so können Fehler in jeder Phase dieses Prozesses auftreten. Jeder zweite Fehler wird bereits im Rahmen der Verordnung begangen. Eine besonders wichtige Rolle spielen hier Überdosierungen von Arzneimitteln bei Patienten mit einer eingeschränkten Nieren- oder Leberfunktion. Weitere Ursachen von Verordnungsfehlern sind die Nichtbeachtung von Wechselwirkungen, von bekannten Patientenallergien oder von Kontraindikationen. Schließlich haben wir das Problem ähnlich heißender bzw. aussehender Arzneimittel. Besonders anschauliche Beispiele sind hier Dexium und Nexium oder auch Cytotec und Cytotect. Eine Verwechslung dieser Arzneimittel ist bei mündlichen Verordnungen nicht unwahrscheinlich. Insbesondere Generika- Hersteller haben zu einer Verschärfung des Problems beigetragen, weil der Firmenname fester Bestandteil vieler Arzneimittelnamen ist. Zusammen mit den fast identisch gestalteten Packungen dieser Hersteller erhöht sich das Verwechslungsrisiko deutlich.
Management & Krankenhaus: Lassen sich Verordnungsfehler – zumindest zu einem Großteil – verhindern, und in welchem Maße können die Krankenhausapotheker dazu beitragen?
Dr. Jochen Schnurrer: Verordnungsfehler können dadurch vermieden werden, dass dem verordnenden Arzt möglichst alle therapierelevanten Informationen zum Zeitpunkt der Verordnung zur Verfügung gestellt werden. Ein möglicher Ansatz sind elektronische Verordnungssysteme, die den Arzt z.B. auf bekannte Patientenallergien oder Wechselwirkungen hinweisen. Derartige Systeme lösen aber nicht alle Probleme; deshalb ist es zwingend erforderlich, dass Klinikapotheker als die Fachleute für Arzneimittelfragen im Krankenhaus verstärkt in den Medikationsprozess eingebunden werden. Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, dass Krankenhausapotheker einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Patientensicherheit leisten, wenn sie Teil des Stationsteams werden. Auch bei der Vermeidung von Zubereitungsfehlern können Krankenhausapotheken eine wichtige Rolle spielen, und im Zytostatika-Bereich tun sie es bereits heute flächendeckend. Diese Arzneimittel werden, nachdem die Verordnungsdaten durch einen Klinikapotheker geprüft worden sind, in der Krankenhausapotheke für Patienten individuell zubereitet und applikationsfertig auf Station ausgeliefert.
Die Verlagerung der Arzneimittelzubereitung von der Station in die Krankenhausapotheke hat hier nachweislich zu einer erhöhten Therapiesicherheit geführt. Ein Ansatz zur Vermeidung von Fehlern bei der Zusammenstellung und Verabreichung der Patientenmedikation liegt in der so genannten Unit-Dose- Arzneimittelversorgung. Statt Arzneimittelpackungen, die im Stationsschrank zwischengelagert werden, liefert die Krankenhausapotheke einzelne für den Patienten verpackte Tabletten auf Station. Diese einzeln verpackten Arzneimittel (= Unit-Doses) sind mit dem Patientennamen und Verabreichungshinweisen gekennzeichnet, so dass Verwechslungen und Applikationsfehler reduziert werden.
Management & Krankenhaus: Also kommt den Krankenhausapothekern eine Schlüsselfunktion bei der qualitätsgesicherten Arzneimittelversorgung zu? Sind sie von der personellen Ausstattung her dafür gerüstet?
Dr. Jochen Schnurrer: Die deutschen Krankenhausapotheken sind bereits jetzt bzgl. ihrer personellen Ausstattung Schlusslicht in Europa. Ein europäischer Kollege hat durchschnittlich 110 Betten zu versorgen, ein deutscher Krankenhausapotheker 330. Trotz dieser schlechten personellen Ausstattung spielen die deutschlandweit 460 Klinikapotheken eine wichtige Rolle im Krankenhauswesen. Krankenhausapotheker sorgen für die zeitnahe Verfügbarkeit der für den Patienten notwendigen Arzneimittel und managen die gesamte Arzneimittellogistik vom Einkauf bis zur Lieferung auf die Station. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sind allerdings Dienstleistungen, wie regelmäßige Begleitungen ärztlicher Visiten, angesichts der eingangs beschriebenen personellen Ausstattung nicht üblich.
Management & Krankenhaus: Es wäre also dringend angeraten, dem Vorbild unserer europäischen Nachbarn zu folgen?
Dr. Jochen Schnurrer: Angesichts der Tatsache, dass die Arzneimitteltherapie immer komplexer wird und Medikationsfehler auch in Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem sind, halte ich es für zwingend erforderlich, dass die deutschen Krankenhausapotheker analog zu ihren europäischen Kollegen verstärkt in den Medikationsprozess eingebunden werden. Im Endeffekt sollte der Krankenhausapotheker als Mitglied des therapeutischen Teams den verordnenden Arzt in seinen Therapieentscheidungen unterstützen, um so die höchstmögliche Therapiesicherheit zu gewährleisten. Ein in diesem Zusammenhang interessanter Nebeneffekt ist die Tatsache, dass durch die Vermeidung von Medikationsfehlern auch Kosten eingespart werden können. Die Frage nach der zukünftigen Rolle der Krankenhausapotheke in Deutschland ist also eng mit der Fragestellung der Patientensicherheit verknüpft.
Die deutsche Realität ist aber, dass in 2003 noch 540 Krankenhausapotheken existierten, von denen vier Jahre später nur noch 460 übrig sind. Patientennahe Dienstleistungen setzen den Klinikapotheker vor Ort jedoch voraus. Die Herausforderung für die Krankenhauspharmazie ist somit, der Politik und den Krankenhausträgern zu verdeutlichen, dass es sich aus genannten Gründen lohnt, in eine Klinikapotheke zu investieren.