Gesundheitsökonomie

Chancen sehen und entschlossen ergreifen

Zum Potential der Digitalisierung in der Pflege

10.01.2020 -

Digitalisierung eröffnet viele Chancen – und das Thema trifft durchaus auf offene Ohren, wie Umfragen zeigen. Auch in der stationären Pflege steckt in ihr das Potential, das Leben Pflegebedürftiger zu erleichtern und sicherer zu machen – und sie kann die Mitarbeiter stark entlasten. Matthias Erler sprach darüber mit Ariane Schenk, Referentin Health & Pharma beim Digitalverband Bitkom.   

Frau Schenk, die Digitalisierung ist in aller Munde – aber nicht in jedem Bereich gleichermaßen. Wie nehmen Sie das Interesse seitens der Profession der Pflege bzw. auch der Träger und anderen pflegerelevanten Institutionen wahr?

Ariane Schenk: Die Digitalisierung birgt in diesem herausfordernden Umfeld großes Potenzial und dringt langsam auch in diese weniger technikorientierte Branche vor. Während es im Krankenhaus bereits viele digitale Prozesse gibt, steht diese Entwicklung im ambulanten Bereich oft noch am Anfang. Bedingt durch den Fachkräftemangel sowie die alternde Gesellschaft steigt das Interesse auf Seiten der Anbieter von Pflege jedoch. Dies wird verstärkt durch eine zunehmende Anzahl junger innovativer Start-ups, die digitale Lösungen im Bereich stationärer und häuslicher Versorgung entwickeln, aber auch durch den Druck der Effizienzsteigerung und Zentralisierung des administrativen Aufwands. Aus einer Bitkom-Studie aus dem Jahr 2018 wissen wir, dass die Menschen in Deutschland einer Digitalisierung der Pflege aufgeschlossen gegenüber stehen: 71 Prozent sehen dies als große Chance, jeder Vierte meint, dass der Pflegekollaps nur vermieden werden kann, wenn die Pflege digitaler wird.

Sie haben im Herbst letzten Jahres ein Papier herausgebracht mit dem Titel „Digitale Lösungen für das Wohnen im Alter – selbstbestimmt, gesund und sicher“. Wenn die Innovationszyklen so exponentiell sind, wie oft gesagt wird, dürfte das Papier inzwischen schon überholt sein...?

Ariane Schenk: Auch wenn im Zuge der Digitalisierung von teilweise rasanten Innovationszyklen gesprochen wird, sind digitale Technologien und Geschäftsmodelle nicht nach weniger als einem Jahr obsolet. Aber digitale Innovationen erfordern ein hohes Maß an Agilität. Seitens der Hersteller, aber auch seitens der Regulierung, also von Politik und Gesetzgeber. Dieses agile Vorgehen, das Softwareentwickler schon lange verfolgen, ermöglicht eine hohe Nutzerzentrierung und praxisorientierte Evaluationsprozesse. Die in dem Papier genannten Beispiele sind durchaus noch relevant und weiterhin erfolgreich. In der Zwischenzeit wurden sie teilweise aus Pilotprojekten heraus fortgesetzt oder haben sich zu tragfähigen Geschäftsmodellen entwickelt.

Dann lassen Sie uns etwas tiefer einsteigen: Wenn wir von ­Digitalisierung in der Pflege reden – wovon reden wir hier genau?

Ariane Schenk: Die Digitalisierung in der Pflege reicht von softwaregestützter Dokumentation und Informationssystemen wie etwa elektronische Akten über die Vernetzung verschiedener Anbieter der Gesundheitsversorgung (Telematikinfrastruktur) bis hin zu sensorgestützten und KI-basierten Angeboten. Ein wesentlicher Bereich sind auch Systeme, die unter der Abkürzung AAL zusammengefasst werden, was für „Ambient Assisted Living“ bzw. „Active Assisted Living“ steht. Das sind Systeme, die es älteren Menschen ermöglichen, länger selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben, sodass sie später oder im Idealfall sogar gar nicht in Pflegeeinrichtungen umziehen müssen. Sensoren am Herd erkennen z. B., wenn die Pfanne mit heißem Öl auf der Platte vergessen wurde, und den Herd automatisch abschalten, bevor ein Brand entsteht. Oder sie schalten den Herd aus, wenn der Bewohner die Wohnung verlässt. Wassersensoren können selbstständig die Wasserzufuhr stoppen, wenn die Badewanne überläuft. Sturzsensoren registrieren, wenn der Bewohner gefallen ist und hilflos am Boden liegt. Dann können automatisch die Angehörigen oder ein Pflegedienst benachrichtigt werden. Spannend sind auch Systeme, die Anomalien im Alltag der Bewohner erkennen können. Wird morgens beispielsweise nicht zur gewohnten Zeit das Licht im Badezimmer eingeschaltet, geduscht und anschließend die Kaffeemaschine gestartet, kann das darauf hindeuten, dass dem Bewohner etwas zugestoßen ist.

Und es gibt digitale Assistenten?

Ariane Schenk: Eine zunehmende Anzahl von Haushalten verfügt mittlerweile über stationäre, smarte Sprachassistenten wie Alexa, Google Home und Co. Solche Systeme bieten ein großes Potenzial, älteren Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Per Sprachbefehl lassen sich Geräte im Haushalt intuitiv und einfach steuern. Beispielsweise kann per Sprachbefehl das Licht angeschaltet werden, was Stürze im Dunklen verhüten kann. Ein weiterer Entwicklungsschritt werden Roboter sein, denen ein großes Weiterentwicklungspotenzial zugeschrieben wird. Dabei ist zu unterscheiden zwischen intelligenten sozialen Assistenzsystemen und autonomen Assistenzsystemen, die automatisierte Routinearbeiten übernehmen oder unterstützen. Humanoide Roboter haben darüber hinaus eine soziale und kommunikative Komponente und sollen auch auf individuelle Bedürfnisse reagieren können. Bekannte Beispiele dazu sind die Robbe „Rosie“ oder der humanoide Roboter „Pepper“, die beide auf emotionale Stimmung abzielen. Etwas simplere, aber effektive Angebote, die bereits eingesetzt werden, sind Systeme, die den Tagesablauf unterstützen und strukturieren. Die intuitive Bedienung von Tablets ermöglicht etwa verschiedene Lösungen zum kognitiven Training, eine Erinnerungsfunktionen ans Trinken und an Medikamente – oder dient auch einfach der Kommunikation mit anderen Menschen.

Welche Entwicklungen sehen Sie hier als besonders relevant an – insbesondere in der stationären Pflege?

Ariane Schenk: Zwei Dinge sind wichtig: Zum einen muss die Kranken- und Altenpflege an die Telematikinfrastruktur angebunden werden. Eine Einführung der elektronischen Patientenakte ist darüber hinaus unabdingbar. Ebenso müssen telemedizinischen Angebote wie die Online-Sprechstunde deutlich ausgebaut werden. In der stationären Pflege geht es zum anderen auch um die digitale Unterstützung der Pflegenden, damit sie entlastet werden und mehr Zeit für die Patienten haben. Nicht zu vergessen die körperliche Entlastung der Pflegenden zum Beispiel durch Exoskelette, also äußere intelligente Stützstrukturen für den Körper. Diese können zum Beispiel erkennen, wenn eine Bück- oder Hebebewegung falsch ausgeführt wird und den Träger warnen.  
Welche genaue Rolle kann all das beim Thema Fachkräftemangels spielen?  

Ariane Schenk: Ganz wichtig ist: Es soll bei der Pflege 4.0 nicht darum gehen, Pflegekräfte einzusparen, sondern um ein Miteinander von digitalen Helfern und menschlicher Zuwendung.  Je mehr Aufgaben durch digitale Helfer übernommen werden,
desto mehr Zeit haben Pflegerinnen und Pfleger für ihre eigentliche Aufgabe: Die Zusammenarbeit mit ihren Patienten. Das Potenzial digitaler Technologien ist in diesem Zusammenhang enorm.

Auch in Zukunft werden Roboter oder andere Technologien weder eine ausgebildete Pflegfachkraft noch einen Arzt oder einen Physiotherapeuten ersetzen. Die Anforderungen die Berufsstände verändern sich jedoch...

Ariane Schenk: Genauso ist es. Es geht bei der Digitalisierung nie um die Substitution von Pflegenden oder Ärzten, sondern um deren Unterstützung. Wichtig ist eine prinzipielle Offenheit und Bereitschaft aller Akteure, die neuen Technologien in ihre Arbeit miteinzubeziehen. Jede Entlastung unseres Pflegesystems können und sollten wir mehr als begrüßen und die Chancen, die sich uns technisch bereits heute bieten, entschlossen ergreifen. Deshalb sind auch Fort- und Weiterbildungen nötig, so dass alle über die nötige Digitalkompetenz verfügen,  mit den neuen technischen Mitteln umzugehen.

Hier und da wird geäußert, die Versprechungen der Digitalisierungsbefürworter in der Pflege würden ein defizitäres Altersbild zementieren – oder überhaupt nur von einer Technik getrieben, die immer ein Problem brauche, aber gar keinen echten Bedarf befriedige. Was halten Sie davon?  

Ariane Schenk: Ganz im Gegenteil. Viele digitale Anwendungen insbesondere für chronisch Kranke und ältere Menschen sind eher unterstützend oder präventiv ausgerichtet – alle mit dem Ziel, die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu erhalten. Die AAL-Systeme habe ich schon genannt. Gut gemachte Projekte werden außerdem von Hilfsangeboten und Kursen begleitet. Etwa bei einem Berliner Projekt gab es als flankierende Maßnahme einen Tabletkurs für Senioren. Die Teilnehmer waren danach nicht nur in der Lage, die Systeme in ihrer smarten Wohnung zu bedienen, sondern auch stolz, vor ihren Enkeln mit dem neuen Technikwissen angeben zu können. Oder denken Sie an sogenannte Wearables. Fitnesstracker, Smartwatches und andere Geräte können sehr unterschiedlich verwendet werden. So nutzen dies Sportler zur Leistungskontrolle und Trainingsoptimierung, andere nutzen sie gezielt zur Überprüfung und Unterstützung bestimmter Gesundheitsziele. Gleichzeitig können sie aber eben auch bei pflegebedürftigen Menschen eingesetzt werden – nicht nur um zu sehen, ob es ihnen gut geht. Sondern auch, um sie etwa bei der Einnahme von Medikamenten zu unterstützen.

In welcher Richtung und nach welchen Prinzipien müssten Digitalisierungsprodukte künftig weiterentwickelt werden? Woran hapert es technisch gesehen noch?

Ariane Schenk: Wichtig ist, dass alle digitalen Angebote nutzerzentriert entwickelt werden. Der Patient und der Anwender müssen im Fokus stehen. Im Gesundheitsbereich ist es schließlich der Mensch, um den sich alles dreht. Alle involvierten Akteure müssen jetzt außerdem die Einführung der elektronischen Patientenakte forcieren, den Ausbau der Telematikinfrastruktur sowie den Anschluss der Alten- und Krankenpflege hieran. Es sollten jetzt alle an einem Strang ziehen, um diese Angebote für die Gesellschaft verfügbar zu machen

Es braucht sicherlich auch noch Überzeugungsarbeit bei den Protagonisten der Pflege?

Ariane Schenk: Vielleicht gar nicht so viel, wie Sie vermuten. Laut unserer Bitkom-Studie schneidet das aktuelle Pflegesystem bei den Menschen lediglich ausreichend ab, im Durchschnitt geben sie der Pflege in Deutschland die Note 4. 94 Prozent meinen, dass es vor allem an Personal mangelt, 60 Prozent halten das Pflegepersonal für nicht ausreichend qualifiziert, 54 Prozent kritisieren die mangelhafte technische Ausstattung von Alten- und Pflegeheimen. Fast jeder – 92 Prozent – ist der Meinung, dass das Pflegepersonal hoch oder gar sehr hoch belastet ist. Die Digitalisierung bietet hier enorme Chancen, das sehen auch die Befragten. Wer Hemmungen hat, dem kann mit gezielten Fortbildungen geholfen werden. Das gilt nicht nur für die Pflegenden, sondern auch die Patienten. Alle Beteiligten können fit gemacht werden für die digitale Zukunft.

Sie haben eine ganze Reihe von Beispielen mit Pilotcharakter in Ihrer Studie aufgeführt. Was hat Sie hier besonders beeindruckt?

Ariane Schenk: Mich hat besonders fasziniert, dass ältere Menschen selbstbestimmt und glücklich im bekannten Wohnumfeld bleiben können, wenn ihr Zuhause sie mit smarten Systemen unterstützt. Statt frühzeitig ins Pflegeheim zu müssen, weil sie beispielsweise sturzgefährdet, seheingeschränkt oder leicht vergesslich sind, können sie in ihrer vertrauten Wohnung bleiben. Der häufig psychisch belastende Umzug in eine Pflegeeinrichtung kann so verhindert oder zumindest herausgezögert werden.

Wie wird das Thema beim Digitalverband Bitkom künftig weiter behandelt?

Ariane Schenk: Die Themen Gesundheit und Pflege nehmen bei uns einen großen Stellenwert ein. Wir haben nicht nur entsprechende Arbeitskreise, in denen unsere Mitglieder aktiv sind, wir bieten mit der Digital Health Conference einmal pro Jahr auch eines der wichtigsten Foren im Bereich Digitalisierung der Gesundheit, bei dem sich Experten über die Chancen in diesem Bereich austauschen und Erfahrungen teilen. Es gibt aber auch Schnittmengen in andere Themenfelder, etwa in den Bereich Smart-Home. Wie schon erläutert können Techniken für ein smartes Zuhause auch älteren Menschen ein längeres selbstbestimmtes Leben in ihren eigenen vier Wänden ermöglichen.

Kontakt

BITKOM - Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien-

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Deutschland

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