Herzinfarktrisiko wird unterschätzt – Kommunikation muss verbessert werden
19.05.2010 -
Ein Drittel aller Kosten im Gesundheitswesen gehen jährlich auf das Konto des Diabetes mellitus, schätzen Experten. Nicht die Behandlung der Grunderkrankung verschlingt das Geld, Kostentreiber sind die vaskulären Komplikationen mit den Folgen Dialyse, Erblindung, Amputation und allen voran Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie verursachen drei Viertel der Kosten bei Diabetes. Für mehr als die Hälfte der Patienten enden diese Gefäßereignisse tödlich. Dabei nimmt die Prävalenz der Grunderkrankung zu (8% in 2005, 12% in 2009, IDF). Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der unentdeckten Diabetesfälle hoch ist. Viele Menschen tragen ein ganzes Bündel von Risikofaktoren für die Erkrankung mit sich, im Schnitt vergehen aber 10 Jahre, bis ein Arzt die Diagnose stellt. Dann ist das Herz meist schon geschädigt - der Infarkt gilt heute nicht selten als Erstsymptom.
Medizinisch wurde die Größe des Problems längst erkannt, über Behandlungsempfehlungen von Fachgesellschaften bestätigt, Ärzte bemühen sich, diese Leitlinien mit Leben zu füllen. Doch bei der Bevölkerung und bei Patienten mit Diabetes überwiegt die Unkenntnis. Risikofaktoren, auf die es ankommt, sind zu wenig bekannt und Diabetiker unterschätzen ihre Gefahr für den Herzinfarkt. Obwohl sie im Vergleich zu Stoffwechselgesunden ein zwei- bis vierfach (bei Frauen bis sechsfach) höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse haben.
Beim Wissen gibt es große Lücken, zeigen die Daten zum Risikobewusstsein in der Bevölkerung und bei Diabetikern in Nordrhein-Westfalen. Das Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit Nordrhein-Westfalen (LIGA.NRW) hat diese repräsentative Umfrage gemeinsam mit der Stiftung „Der herzkranke Diabetiker" (DHD) durchgeführt. 2.000 Personen wurden dazu im NRW-Gesundheitssurvey erfasst und zusätzlich 505 Diabetiker befragt. Beim NRW-Survey gab die Hälfte der Befragten an, dass Rauchen (51,2%), Übergewicht (49,9%) und Stress (40,3%) die Infarktgefahr erhöhen. Von den Diabetikern nannte hingegen nur ein Drittel das Rauchen als Risikofaktor. Der Anteil derer, die meinen, dass bei Diabetes mit Ernährung und Bewegung einem Herzinfarkt vorgebeugt werden kann, war in beiden Gruppen etwa gleich hoch (60 bis 70%). „Die Angaben variierten jedoch im Kontext von Sozialstatus und Herkunft. In höheren Schichten war der Kenntnisstand in vielen Bereichen besser als bei sozial benachteiligten Gruppen. Gleiches galt für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund", sagt Projektkoordinator Wolfgang Werse vom LIGA.NRW in Düsseldorf.
Keiner hat aber damit gerechnet, dass Patienten mit Diabetes zum Thema Herzinfarkt so wenig wussten. Das Risikobewusstsein war insgesamt gering: Nur 15% der Diabetiker gaben an, dass die Erkrankung das Herz bedroht. Dass das Risiko für Diabetiker, einen Infarkt zu erleiden, genauso hoch ist wie für Nicht-Diabetiker, die schon einen Infarkt durchlebt haben, schätzte knapp ein Fünftel richtig ein. Nur jeder Zweite kannte typische Infarktsymptome wie Engegefühl in der Brust oder Schmerzen in Arm, Schulter, Nacken. Nur jeder Vierte wusste, dass Luftnot ein Anzeichen ist. „Wir sind entsetzt über die Anzahl der Betroffenen, die ihr Infarktrisiko nicht kennen. Die Symptome sind unzureichend bekannt und Risiken werden falsch gewichtet" kritisiert Prof. Diethelm Tschöpe, Vorsitzender der Stiftung DHD und ärztlicher Direktor vom Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen.
Bei den Infarkt-beschleunigenden Faktoren, die man beeinflussen kann, wurden entscheidende Parameter von den Diabetikern zuletzt genannt. Erst jedem Zwanzigsten war bewusst, dass mit Einstellung von Blutdruck- und Blutfettwerten im Normbereich einem Herzinfarkt vorgebeugt werden kann. Nur 16% der 505 befragten Diabetiker meinten, die Blutzuckereinstellung wäre für die Risikoreduktion wichtig, was erschreckend sei, moniert Tschöpe. Das Gros der Patienten kannte auch die Behandlungsziele nicht. Deshalb müsse man sich fragen, wie gut Diabetiker informiert sind, erklären die Verantwortlichen von LIGA.NRW und Stiftung DHD. Immerhin sagten drei Viertel der Betroffenen in NRW, sie hätten schon eine (35,8%) oder mehrere Schulungen (38,4%) besucht. Trotzdem konnte aber nur die Hälfte aller Diabetiker das Ziel für den HbA1c-Wert benennen. Über 70% der Patienten wussten auch nicht, wie der Blutdruck sein soll. Kenntnis von den Zielwerten beim Cholesterin (HDL-/ LDL-Cholesterin) hatten unter 20%.
„Wenn die Defizite selbst bei wichtigsten Risikofaktoren so groß sind und kaum Wissen über die eigene Gefährdung vorhanden ist, muss die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessert werden", betont Tschöpe. Allzu häufig scheinen noch geeignete Vermittlungsstrategien zu fehlen. Zwar habe man sicher mit den DMP (Disease Management Programme) erreicht, dass heute mehr Patienten an einer Schulung teilnehmen. Aber es könne nicht sein, dass gerade Diabetiker, die regelmäßig pro Quartal einen Arzt konsultieren und oft über Jahre ausführlich zur Erkrankung geschult werden, zum Risiko Diabetes und Herz nicht genug aufgeklärt sind. Damit die zentralen Botschaften bei den Betroffenen ankommen, sollte eine Sprache gesprochen werden, die der medizinische Laie versteht. Wichtig seien auch die Eindeutigkeit in Aussagen und der Fokus auf die krankheitsrelevanten Inhalte. Gerade darin liege ein Potential der sprechenden Medizin wie Endokrinologie/ Diabetologie, die in der Versorgungsrealität auch dem permanenten Druck standhalten muss, wirtschaftlich weniger rentabel zu sein als die Apparatemedizin, z.B. in der Kardiologie.