Neugeborenen Screening - Erfolgsmodell der Neonatalogie
10.08.2015 -
Nachhaltig die Mortalität und Morbidität zu senken, stellt hohe Anforderungen an die Prozessqualität eines effektiven und stetig komplexer werdenden Neugeborenen Screenings.
Das erweiterte Neugeborenen Screening ist die erfolgreichste Maßnahme zur Sekundärprävention gesundheitlicher Beeinträchtigungen in Deutschland. Es umfasst derzeit zwölf Stoffwechselstörungen, zwei Hormonkrankheiten und das Hörscreening. Jedes Jahr können durch das Screening viele 100 Kinder vor schweren Entwicklungsstörungen, zumeist bleibender geistiger Behinderung, oft sogar vor dem Tod bewahrt werden. Von einer beidseitigen, therapiebedürftigen
Hörstörung ist circa eines von 1.000 Neugeborenen betroffen, die Stoffwechselstörungen und Hormonkrankheiten sind einzeln seltene Erkrankungen. Diese machen aber insgesamt ein Viertel aller bekannten Erkrankungen aus und betreffen kumulativ ebenso viele Menschen wie die großen Volkskrankheiten. Innerhalb der seltenen Erkrankungen sind die mehr als 600 genetisch bedingten angeborenen Stoffwechselerkrankungen von besonderer Relevanz. Für sie wurden die Möglichkeiten einer raschen und eindeutigen Diagnostik und vor allem erfolgreichen Behandlung in einem noch vor wenigen Jahren nicht vorhersehbaren Umfang verbessert.
Trackingverfahren stellt Screeningablauf sicher
Voraussetzung für ein effektives Neugeborenen Screening ist ein klar strukturierter Ablauf des Screeningprozesses mit korrekter Durchführung von Aufklärung, Probenentnahme, Probenversand, Befundmitteilung und, falls erforderlich, zeitnaher Einleitung weiterer Diagnostik und Therapie. Da sich einige Zielkrankheiten klinisch bereits sehr früh manifestieren können, wurde der Zeitraum für die Blutentnahme auf die 36.–72. Lebensstunde gelegt. Untersuchungen zur Langzeitentwicklung belegen, dass das erweiterte Neugeborenen Screening bei fast allen Kindern mit einer der erfassten Zielkrankheiten eine präsymptomatische Diagnosestellung, eine frühe Einleitung der Behandlung und dann eine überwiegend normale körperliche und geistige Entwicklung ermöglicht. Da die gesamte Population überwiegend „gesunder“ Neugeborener ohne erhöhtes Risiko für bestimmte Erkrankungen untersucht wird, sind an die Prozessqualität im analytischen sowie prä- und postanalytischen Screeningablauf besonders hohe Anforderungen zu stellen. Dazu gehört die zeitgerechte Blutentnahme, für die kapilläres Fersenblut (Abb. 1) oder venöses Blut direkt auf die Filterpapierkarte (Abb. 2) getropft wird. Überaus bewährt hat sich ein sog. Trackingverfahren: Nach auffälligem Befund wird vom Screeninglabor oder dem Screeningzentrum der Eingang der Kontrollprobe bzw. die Versorgung des betroffenen Kindes bis zur frühzeitigen Therapieeinleitung begleitet und sichergestellt.
Frühe Diagnose senkt Morbidität und Mortalität
Das Neugeborenen Screening ist in den Kinder-Richtlinien des G-BA sowie durch das Gendiagnostikgesetz detailliert geregelt. Notwendige Verbesserungen betreffen die bundeseinheitliche Etablierung von Trackingstrukturen und die Erweiterung der Zielkrankheiten. Die Weiterentwicklung biochemischer und molekularbiologischer Techniken erlaubt zunehmend die eindeutige präsymptomatische Identifizierung relevanter Erkrankungen. Eine schon aufgrund ihrer Häufigkeit besonders wichtige neue Zielkrankheit ist die cystische Fibrose (CF). In Deutschland werden jedes Jahr etwa 200 bis 250 Kinder mit CF geboren. Eine frühe Diagnose durch ein Neugeborenen Screening ermöglicht eine sofortige kompetente Behandlung der Betroffenen, wodurch die Morbidität und die Mortalität wesentlich verringert werden kann. Auch können die Kosten für das Gesundheitswesen insgesamt reduziert werden. Bei den angeborenen Immundefekten (Severe Combined Immunodeficiency, SCID) kann die frühe Diagnose im Neugeborenen Screening die Sterblichkeit um mehr als 90 % reduzieren. Ebenfalls eindeutige, in anderen Ländern bereits überzeugend nachgewiesene Verbesserungen ergeben sich für die Hämoglobinopathien, z. B. die Sichelzellkrankheit, bei der ohne Frühdiagnose etwa 10 % der Betroffenen im ersten Lebensjahr, ca. 20 % in den ersten fünf Lebensjahren überwiegend durch schwere Infektionen und durch Milzsequestration versterben.
Pilotprojekte „neuer“ Screening-Krankheiten
Diese Fortschritte in Diagnostik und Therapie erfordern jetzt für Deutschland Pilotprojekte „neuer“ Screening-Krankheiten. Studien zur möglichen Erweiterung des Tandem-Massenspektrometrie-Screenings, konkret auf Tyrosinämie Typ I, Propionazidämie, Methylmalonazidämien sowie Störungen im Vitamin-B12-Stoffwechsel werden aktuell in den Screeningzentren in Heidelberg und München durchgeführt und evaluiert. Insgesamt spiegeln die immer wichtiger und zahlreicher werdenden Neuentwicklungen im Gesamtkontext „Screening“ die raschen und oft entscheidenden Fortschritte in Diagnostik und Therapien wider sowie die vor allem von den Kinder- und Jugendärzten propagierte und unterstützte Einstellung zur besseren Vorsorge und präventiven Medizin. Damit ergeben sich neue, aussichtsreiche diagnostische Möglichkeiten für viele betroffene Kinder und ihre Familien, aber auch notwendige große Anstrengungen für eine sorgfältige Evaluation und Stärkung der naturgemäß immer komplexer werdenden Screeningprogramme.
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