Medizin & Technik

Neuromodulation: Zunehmende Bedeutung

02.02.2011 -

Die Deutsche Gesellschaft für Neuromodulation sieht ihre Aufgabe in der interdisziplinären Zusammenführung sogenannter nicht ablativer - nicht destruierender Maßnahmen, welche zu einer Modifikation neuraler Funktionen durch augmentative Verfahren beiträgt.

Durch die Entwicklungen der Medizintechnik, insbesondere der Miniaturisierung von z.B. Elektroden, der Computerisierung elektronischer Funktionen, ist es möglich gewesen, mittels minimal-invasiven Interventionen praktisch jede Stelle des zentralen oder peripheren Nervensystems einer direkten Beeinflussung zuzuführen.

Nachdem in den sechziger und siebziger Jahren erste Pionierarbeiten gerade im deutschsprachigen Raum durchgeführt wurden, haben die o.g. Gründe dazu geführt, dass weltweit nicht nur von einer Renaissance solcher Methoden auszugehen ist, sondern dass eine erhebliche Ausweitung der Indikationen sich ergeben hat.

Dabei gibt es neben standardisierten Verfahren, z.B. Anwendung von Neurostimulatoren an den Rückenmarksbahnen und den peripheren Nerven, Anwendung von Neurostimulatoren, welche zerebrale Hirnnervenkerngebiete in ihrer Aktivität beeinflussen (Morbus-Parkinson, essenzieller Tremor, Torsionsdystonie); auch ausgesprochen zukunftsträchtige Verfahren wie die Beeinflussung von psychiatrischen Erkrankungen durch Neuromodulation (Zwangsneurosen, Depressionen, Suchtverhalten) bis zu experimentellen Verfahren z.B. des artifiziellen Sehens, Fühlens, Hörens durch Implantate im Bereich des Sehrinde, des Innenohrs, des Hirnstammes. Dazu hören auch biokinetische Verfahren, um beispielsweise gelähmte Muskeln durch direkte Stimulation zu reproduzierbaren Funktionen zu führen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beeinflussung epileptischer Erkrankungen welche zu einer Reorganisation/Synchronisation gestörter Erregungsabläufe beitragen kann.

Das zahlenmäßige größte Gebiet trifft die Patienten mit chronischen Schmerzzuständen. Bahnbrechende Arbeiten in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts insbesondere auch aus dem deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Gebiet zeigten, dass durch die Beeinflussung bestimmter Nervenzellverbände andere überlagert werden können und so eine anhaltende Schmerzlinderung auch bei Patienten erreicht wird. Dies betraf insbesondere Patienten, welche durch konventionelle Verfahren nicht mehr behandelt werden können. Dabei haben sich Verfahren wie die SCS (Spinal Cord Stimulation, gepulste Anwendungen) voll etabliert.

Inzwischen wurde eine sogenannte S3-Leitlinie, d. h. Leitlinie mit hoher Evidenz, der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Gesellschaften entwickelt, welche die Indikation bei chronischen Schmerzen im Rahmen der komplexen regionalen Schmerzkrankheit untermauern. Das Gleiche gilt für die Anwendung der peripheren Neurostimulation (PNS). Damit sind auch Patienten mit einer oft jahrzehntelangen Anamnese sogenannter neuropathischer Schmerzen nach Nervenverletzungen, Phantomschmerzen, erstmals wieder einer effektiven Schmerzbeeinflussung zugänglich, ohne eine erneute Destruktion betroffener Gebiete zu riskieren.

In den letzten Jahren hat sich die regionale Feldstimulation entwickelt, bei der Patienten mit nicht kurierbaren lokalen-arealabhängigen Schmerzzuständen einer minimal-invasiven subkutanen Stimulation zugeführt werden, z.B.: Okzipitalisneuralgie, Cluster-Kopfschmerz oder chronischer Rückenschmerz.

Besonders hinzuweisen ist noch auf die überraschende und anhaltende Beeinflussung kardialer und peripherer Durchblutungsstörungen, wobei sich gezeigt hat, dass Patienten mit instabiler Angina pectoris einen deutlich reduzierten Nitrateverbrauch, Ökonomisierung der Herzarbeit, reduzierten Sauerstoffverbrauch und insbesondere auch Rückgang der Stenokardien verzeichnen.

Dies geschieht insbesondere bei Patienten, bei denen ein kardiochirurgischer Eingriff oder andere kardiologische Interventionen nicht mehr zur Besserung am Herzen führen. Das Gleiche gilt für periphere arterielle Verschlusskrankheiten, wobei eine Patientengruppe mit nicht mehr chirurgisch oder interventionell beeinflussbarer Gefäßerkrankungen durchaus noch mit einer Spinal-Cord-Stimulation eine Verbesserung durchblutungsabhängiger Partien (ob Arm oder Bein) erreichen kann. Der Effekt der Therapie verzeichnet sich durch eine verlängerte Gehstrecke, deutlichen Rückgang des Ruheschmerzes, erleichterte Abheilung der häufig damit assoziierten „offenen" Beine etc.

Eine erhebliche Bedeutung hat die Neuromodulation bei Menschen mit Kontinenzproblemen, wobei durch einfache minimal-invasive Verfahren Patienten mit gestörter Blasen- oder Stuhlinkontinenz wieder zu einer normalisierten Funktion gebracht werden können. Mittlerweile werden diese Verfahren in den spezialisierten Zentren als etabliert angesehen.

Ein weiteres großes Gebiet ist die Anwendung der Neuromodulation mittels Medikamentenpumpen. Seit Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts konnte in systematischen Untersuchen insbesondere auch aus dem deutschen Sprachraum gezeigt werden, dass durch die minimale invasive Anwendung von implantierten Kathetersystemen in den Rückenmarkskanal die sogenannte Bluthirnschranke umgangen werden kann. Dadurch war es möglich, ins Rückenmark oder Gehirn Substanzen kontinuierlich zu infundieren, wodurch das Problem der Verträglichkeit über die orale Zufuhr umgangen wurde. Verglichen mit der systemischen Zufuhr erreicht man eine höchst effektive Wirkung mit einer um den Faktor 100 oder 1.000 erniedrigten Dosis. Außerdem wird durch den Einsatz von implantierten Medikamentenpumpen den Patienten ein weitgehend unabhängiges Leben gestattet, sodass er nur für die Pumpenfüllungen im Intervall in der Regel zwischen 1-2 Monaten ambulant seinen behandelnden Arzt aufsuchen muss, um die entsprechende Substanz wieder injiziert zu erhalten. Als Schwerpunkte sind hier spastische Bewegungsstörungen und auch der chronische Schmerz zu nennen.

Das wesentliche Charakteristikum in der Anwendung der Neuromodulation besteht in der interdisziplinären Indikationsstellung verschiedener medizinischer Fachgebiete und einer intensiven Kooperation mit der forschenden medizintechnischen Industrie, welche in ganz enger Abstimmung mit den Anwendern fortlaufend entsprechende neuromodulatorische Systeme entwickelt, um solche Behandlungen zu ermöglichen. Dabei konnte in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt werden, dass die zunächst kostenintensiv anzusehenden Systeme durch die massive Einsparung medikamentöser oder anderer Behandlungsverfahren, Minimierung stationärer Behandlungen, größere Intervalle zwischen den Arztbesuchen für das Gesundheitssystem kostengünstige Behandlungsformen darstellen.

In der Deutschen Gesellschaft für Neuromodulation finden sich dementsprechend schwerpunktmäßig Fachgebiete, die sich seit Jahren mit diesen verschiedenen Verfahren beschäftigen, wie: die Neurochirurgie, Schmerztherapie, Psychiatrie, Anästhesiologie Intensivmedizin, Neurologie, Epileptologie, Biokinetik, Neurophysiologie, motorische Bewegungsstörungen, Urologie, Gynäkologie und Viszeralchirurgie. Dabei sehen wir unsere Aufgabe darin, die Aktivitäten der verschiedenen Fachgebiete zu bündeln, zusammenzuführen, denn nur durch interdisziplinären Austausch ist es möglich, Kenntnisse und Fragestellungen so zu verknüpfen, dass angesetzte Verfahren aus verschiedenen Sichtweisen kritisch beleuchtet werden und über das eigene Fachgebiet hinaus Methoden implementiert werden, oder sogar mit einer Neuindikation bei betroffenen Patienten angewendet werden können. Im Oktober 2010 fand dazu die 6. Jahrestagung der DGNM in Luxemburg statt. Es war eine erfolgreiche Tagung mit einer sehr hohen Teilnehmerzahl und interessanten Vorträgen und Workshops. Zusätzlich wurde während der Mitgliederversammlung ein neuer Vorstand gewählt: Dr. med. Werner Braunsdorf, Magdeburg (Präsident); Dr. med. Frank Hertel, Luxemburg (Vizepräsident); Dr. Johan Moreau, Aachen (Kassenwart); Christian Mantsch, Minden (Schriftführer).

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